piwik no script img

Ist Belgiens Sprachenstreit beendet?

Den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen Flamen und Wallonen möchte Premier Wilfried Martens per Verfassungsreform schlichten / Belgien wird in drei Regionen aufgeteilt / Die unterscheidliche Entwicklung der Gebiete wird sich durch die Reform nicht ändern  ■  Von Henk Raijer

Blutige Schlägereien in der Brüsseler Innenstadt. Flämische Nationalisten und wallonische Sozialisten nehmen die Pläne der belgischen Regierung, die Sprachgebietsgrenzen neu zu gestalten und damit den „Sprachenstreit“ endgültig beizulegen, zum Anlaß, ihren Unmut über die zu erwartenden Folgen prophylaktisch am politischen Gegner auszulassen. Von den Treppen des Hauptbahnhofs fordert der 25jährige Wilfried Martens seine Freunde von der „Flämischen Volksbewegung“ in fulminanter Rede auf: „Auf, Flaminganten, zu den Waffen!“ Die Brüsseler Bevölkerung, zum größten Teil französisch -sprachig, bekundet vom heimischen Balkon aus ihr Mißfallen auf eilig entworfenen Transparenten: „Kehrt zurück in eure Dörfer, ihr flämischen Bauern!“

Es ist das Jahr 1961. Ein Jahr später - die Regierung hat soeben nach mühsamem Kompromiß einige flämische Städtchen dem französischen Sprachgebiet zugeschlagen und eine komplette frankophone Region mit über 4.000 Menschen flamisiert - plädiert derselbe Wilfried Martens für einen „unionistischen Föderalismus“: Belgien soll zwar eine ökonomische und monetäre Einheit bleiben; innerhalb dieser Union jedoch sollen die flämischen und wallonischen Landesteile Autonomie genießen.

Späte Frucht des Krieges

26 Jahre später, im Spätsommer 1988 - Wilfried Martens steht zum achten Mal einer bel gischen Regierungsmannschaft

vor -, stimmt das belgische Parlament einer Verfassungsänderung zu, nach der Belgien zu einem Bundesstaat umgebildet wird. Findet mit dieser Regelung die belgische Vendetta ihr Ende? Wo liegen die Anfänge der verbitterten Gegnerschaft, der bis in die 80er Jahre hinein mancher harmlose Kneipenbesucher zum Opfer fiel, nur weil er sich unvorsichtigerweise ohne Waffe auf „feindliches“ Terrain begeben hatte?

Die „Flämische Front“ entstand 1917 in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Die von einfachen niederländischsprachigen Soldaten getragene Bewegung richtete sich gegen Bevormundung und Arroganz der französischsprachigen Offiziere: Tausende flämische Soldaten fanden den Tod, weil sie die Anordnungen ihrer Vorgesetzten nicht verstanden hatten. Aus dieser flämischen Volksbewegung - als Reaktion folgten schon bald die Sammlungsbewegung „Front Democratique des Francophones“ (für regionale Autonomie) sowie die „Ressemblement Wallon“ (für Angliederung an Frankreich) - gingen die radikal -nationalistischen „Aktivisten“ hervor, die während der Endphase des Krieges mit den Deutschen kollaborierten. Sie wollten mit Hilfe des Aggressors den Staat Belgien abschaffen und ein freies, unabhängiges Flandern proklamieren.

Dafür ließ der damals wirtschaftlich und politisch dominierende frankophone Süden ab 1918 alle Flamen büßen: Flämische Forderungen wurden von nun an als „Bocherie“ abgetan, als „Deutschelei“. Die Verbitterung unter den Flamen wuchs mit jeder Verurteilung angeblicher Kollaborateure durch Richter, deren Sprache sie nicht verstanden. Flämisch galt als Sprache der Bauern, an der Universität von Gent wurde erst 1930 in niederländisch unterrichtet. Die Frustration ob des erlittenen Unrechts führte viele flämische Nationalisten geradewegs in die erneute Kollaboration - diesmal mit den Nazis. „Wäre die Kollaboration nicht gewesen, Belgien hätte seinen Bundesstaat bereits in den 40er Jahren gehabt“, so ein flämischer Föderalist der ersten Stunde. Statt dessen verhärteten sich die Fronten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Anders als in Flandern sind es im Süden traditionell die Sozialisten, die Autonomie fordern. Sie fühlen sich nicht kulturell, sondern ökonomisch benachteiligt. In den 50er und 60er Jahren verschiebt sich der industrielle Mittelpunkt des Landes vom frühindustriellen Revier im Süden immer mehr nach Nordwesten. Bergbau und Stahlindustrie in Namur, Hennegau und Lüttich verlieren an Bedeutung. Die wallonische Gewerkschaftsbewegung verknüpft die Forderung nach antikapitalistischer Strukturreform mit der nach wallonischer Unabhängigkeit.

Während in anderen Hauptstädten Westeuropas die Studenten für eine allgemeine Reform der Gesellschaft auf die Straße gehen, schlagen sich junge Flamen und Wallonen auf dem Campus der Leuvener Universität die Köpfe ein. Nach dem Rücktritt des Kabinetts geht auf beiden Seiten der Front die belgische Fahne in Flammen auf.

Die Verfassungsänderung

Wie soll nach der dritten Verfassungsänderung seit 1970 das neue Belgien nun aussehen? Drei Hauptregionen und drei Volksgemeinschaften gibt es nach der neuen Ordnung: die Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel, daneben die flämische Volksgemeinschaft (alle niederländischsprachigen Belgier sowie die Flamen in Brüssel), die wallonische (Wallonen und französischsprachige Brüsseler) sowie eine deutschsprachige (nicht: deutsche!) Volksgemeinschaft. Sowohl Volksgemeinschaften als auch Hauptregionen haben ein eigenes Parlament, einen sogenannten wallonischen und flämischen Rat. Die Gesetze in den Regionen Flandern und La Wallonie nennen sich Dekrete, in Brüssel Ordonnanzen. Volksgemeinschaften wie Hauptregionen haben laut Verfassung keine eigene Regierung, sondern eine Exekutive. Damit hat Belgien dann an die 50 Minister und Staatssekretäre. Volksgemeinschafts-, Regions- und nationale Würdenträger werden sich bei diesem Konzept schon mal auf die Füße treten. Um potentiellen Kompetenzrangeleien zu begegnen, wurde eine dem Bundesverfassungsgericht ähnliche Instanz eingerichtet.

Am schwierigsten gestaltete sich der Kompromiß um die Landeshauptstadt. Während Brüssel eine frankophone Bevölkerungsmehrheit hat, bilden die Niederländischsprachigen in Belgien insgesamt die Mehrheit. Um Streitigkeiten von vornherein auszuschließen, wurden Hindernisse eingebaut: Ein Gesetz wird nur angenommen mit einer Zweidrittelmehrheit im nationalen Parlament und einer einfachen Mehrheit in jedem Sprachgebiet. Die nationale Regierung zählt ebensoviele niederländischsprachige wie frankophone Minister - ein Zugeständnis an die wallonische Minderheit; als Ausgleich besetzen die Flamen die Hälfte der Posten in der Brüsseler Exekutive.

Die Baumeister der neuen Verfassung geben sich optimistisch. Der Staatssekretär für „Institutionalisierte Reformen“ im Kabinett Martens, Norbert de Batselier, meint, im Vergleich mit ähnlichen Konfliktherden wie Nordirland und dem Baskenland hätten sich die Angehörigen der verschiedenen Kulturgruppen in Belgien ihre neue Staatsform unblutig erkämpft. Das deute aber keineswegs auf das ausgeprägte Demokratieverständnis der Belgier hin, so der Verfassungsspezialist Professor Leo Neels, sondern eher auf Indifferenz. „Dieser Prozeß spielt sich ab in einem politischen Vakuum. Ob Wallone oder Flame, der Belgier hat prinzipiell ein angespanntes Verhältnis zur Obrigkeit. Sollte es so etwas wie eine besondere 'belgische Mentalität‘ geben, so ist es die, den Staat so viel wie nur möglich zu hintergehen.“

Eines wird die Verfassungsänderung nicht lösen können: Flandern ist reicher als La Wallonie. In Zukunft können die Teilstaaten ihre Steuern selbständig erheben und ihr Budget regional begrenzt verwenden. Während sich die Kontrahenten nun in Zukunft um gegenseitige kulturelle Bevormundung nicht mehr zu sorgen brauchen - das ist alles bis ins kleinste Detail vorausgedacht - bereitet den Flamen die vielbeschworene überregionale „Solidargemeinschaft“ Kopfzerbrechen. Die vor kurzem vom Innenminister gefaßte Entscheidung, dem heruntergekommenen Industriezentrum Lüttich unter die Arme zu greifen und zwei Milliarden Mark Schulden zu übernehmen, sorgt bereits für neuen Zündstoff.

Auch die internationalen Entwicklungen - den europäischen Gedanken - scheinen die Spezies in ihren Brüsseler Amtsstuben verschlafen zu haben: Wer soll Belgien im Europäischen Ministerrat repräsentieren, zum Beispiel im Kulturressort? Nahrung zuhauf für eine neue Welle von Belgier-Witzen in den Nachbarländern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen