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Kommunist im Goldenen Westen

■ Ex-Schachweltmeister Anatoli Karpov stand als Zeuge vor dem Hamburger Landgericht - in Berlin

Außergewöhnliche Dinge erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Weil der Terminplan des ehemaligen Schachweltmeisters Anatoli Karpov (UdSSR) auf Monate ausgelastet ist, mußten drei Richter, je ein Rechts- und Staatsanwalt, zwei Schöffen und eine Protokollführerin eine Reise nach Berlin antreten. Das Team des Landgerichts Hamburg tagte gestern für einen Tag im Kriminalgericht Moabit und vernahm in einer mehrstündigen Verhandlung das 37jährige Schachgenie aus Moskau - als Zeugen.

Der Fall: Helmut Jungwirth, ein inzwischen gefeuerter Fernsehjournalist des NDR, und Anatoli Karpov lernten sich im Jahre 1976 kennen. Schon bald entwickelte sich zwischen dem CDU-Mitglied Jungwirth und dem Vorzeigekommunisten Karpov eine Interessengemeinschaft. Jungwirth versorgte den kranken Vater Karpovs mit Medikamenten, half des Weltmeisters Briefmarkensammlung zu komplettieren und erledigte allerhand Kleinkram - aus Freundschaft. Doch schon bald sollte der Kontakt in bare Münze umschlagen.

Eine Schachcomputerfirma mit Sitz in Hongkong wollte mit Karpov Werbung für ihr Produkt machen. Unter Vermittlung Jungwirths kam ein Kontrakt zustande, der Karpov 2,5 Dollar pro verkauftes Gerät einbringen sollte. Jungwirth, so die Aussage des Weltmeisters, habe damals vorgeschlagen, den Erlös dieses Promotion-Einsatzes aus steuerlichen Gründen auf ein Konto in den USA zu überweisen.

Der sowjetische Fiskus, an den Karpov 80 Prozent hätte abführen müssen, bekam von dieser Sache zunächst keinen Wind. Die Computerfirma zahlte rund 450.000 Dollar an den Bevollmächtigten Jungwirth. Dieser leitete die Summe jedoch nicht weiter, und bisher gibt es keine Spur, wo das Geld geblieben ist. Karpov habe, so sagte er gestern vor Gericht, dieser Angelegenheit zunächst keine besondere Bedeutung beigemessen. Deshalb habe er erst Jahre später nachgefragt, wo denn das Geld für die Werbung geblieben sei. Jungwirth hätte immer neue Ausflüchte bereit gehabt.

Der von Karpov angestrengte zivilrechtliche Prozeß endete mit einem Vergleich. Darin verpflichtete sich Jungwirth, 800.000 Mark zu zahlen. Die Kosten des Gerichtsverfahrens wurden zu zwei Dritteln von Jungwirth übernommen. Dennoch wartete der Journalist nun mit einer neuen Geschichte auf. Er habe im Auftrag Karpovs vielfältige Interessen wahrgenommen. Es sei abgesprochen worden, daß diese Aktivitäten vom Weltmeister getragen werden müßten. So mietete Jungwirth eine Wohnung in den USA an und kaufte ein Auto. Angeblich sollte er Karpovs Flucht, falls dieser 1978 die Weltmeisterschaft verlieren sollte, in den Westen vorbereiten. Gestern bestritt Karpov diese Version energisch. Die Kosten für den gestrigen Betriebsausflug des Hamburger Gerichts nach Berlin übernimmt entweder der Staat oder Helmut Jungwirth. Doch der Fernsehjournalist ist nach eigener Aussage zur Zeit mittellos. Der Prozeß wird in der nächsten Woche in Hamburg fortgesetzt.

Holger Schacht

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