Jacek Kuron: „Solidarnosc muß heute nicht mehr alle Polen vertreten“

Die Zulassung neuer Politzirkel und Parteien eröffnet der unabhängigen Solidarnosc die Möglichkeit, sich auf ihre rein gewerkschaftlichen Aufgaben zu beschränken  ■ I N T E R V I E W

Jacek Kuron ist als Mitbegründer des „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR) einer der entscheidenden Köpfe der polnischen Opposition und Berater der Solidarnosc.

taz: Es gab erhebliche Kritik an der Entscheidung, die Streiks zu beenden und sich an den runden Tisch zu setzen. Wird die dauernde Verschiebung des Verhandlungsbeginns die Stimmung nicht radikalisieren?

Jacek Kuron: Das wäre übertrieben. Es gab Kritik daran, daß die Streiks beendet wurden, weil es manchen schien, es gebe zu wenig Garantien von der Regierungsseite. Es wurde aber nie der runde Tisch kritisiert. Ich bin jedenfalls in der Solidarnosc keinem begegnet, der den runden Tisch ablehnen würde. Einige haben zwar kein großes Vertrauen zu den Verhandlungen, aber sie warten geduldig auf Ergebnisse. Sie haben kein Vertrauen, weil ihnen die Erfahrung sagt, daß die Kommunisten ihre Abmachungen nicht einhalten.

Gibt es keine Tendenzen in der Gewerkschaft, die verlangen, Schluß zu machen und vom runden Tisch aufzustehen?

Von einem Tisch aufstehen, den es noch gar nicht gibt? Nein, das wäre die absolute Kompromittierung. Schließlich verbinden die Leute mit dem runden Tisch ja doch eine Menge Hoffnungen und Erwartungen. Die Regierung ist immer nett und liberal, wenn sie das Messer an der Gurgel hat. Kann sein, daß jetzt, wo sich die Situation beruhigt hat, sie genug hat vom „runden Tisch“ und ihn deshalb so lange hinausschiebt. Kann sein. Aber es gibt keinen Zweifel daran, daß sie ihn nicht ganz fallen lassen kann. Die Erwartungen sind zu groß. Derjenige verliert in den Augen der Öffentlichkeit seine Glaubwürdigkeit, der ihn verläßt. Außerdem wird die derzeitige Linie von Solidarnosc ja auch von allen unterstützt, von Dziekania (katholisch-nationaler Klub d.Red.) bis KPN (Nationale Polnische Partei - d.Red.), und wichtig ist vor allem die Haltung der schweigenden Mehrheit, denn das ist die Basis von Solidarnosc. Solidarnosc ist ja keine Partei.

Nein. Aber im Moment ist doch die Frage, was Solidarnosc in Zukunft sein soll: reine Gewerkschaft oder gesellschaftliche Bewegung?

Darüber entscheiden nicht Absprachen oder Diskussionen, sondern die Dynamik der Bewegung. 1980 war Solidarnosc einfach alles. Die Leute legten ihre Hoffnungen in sie, sie mußte einfach alle vertreten. Darüber, was Solidarnosc in Zukunft sein wird, darüber entscheiden die Mitglieder. Heute ist nicht 1980. Heute haben wir die Selbstverwaltungsbewegung. Selbstverwaltungsräte gibt es inzwischen in immerhin zehn Prozent der Betriebe, das ist doch was. Die (Arbeiter in diesen Betrieben - d.Red.) brauchen Solidarnosc allenfalls noch als Verbündeten. Im Moment entstehen massenhaft solche Vereinigungen, daher kann man davon ausgehen, daß die Leute, die zu Solidarnosc kommen wollen, in erster Linie an ihr als an einer Gewerkschaft interessiert sind. Damit sehen wir, daß heute Solidarnosc nicht mehr alle vertreten und sich für alles verantwortlich fühlen muß.

Hängt es nicht sehr von den Umständen ab, ob sich Solidarnosc aufs rein Gewerkschaftliche beschränken kann oder ob sie wieder Feuerwehr für alle spielen muß?

Das stimmt natürlich, daß das von der Situation abhängt. Aber je mehr Demokratie es geben wird, desto mehr wird sich Solidarnosc auf die Rolle einer reinen Gewerkschaft beschränken können.

Im Moment tritt Solidarnosc ja für die Reform ein. Nun fordern ja aber gerade viele oppositionelle Wirtschaftsexperten eine Abkehr von den unrentablen Hütten und Stahlbetrieben, also jenen Betrieben, in denen Solidarnosc am meisten Rückhalt hat. Besteht da nicht die Gefahr, daß die Gewerkschaft in einigen Jahren vielleicht gegen die Reform streiken wird?

Man kann in diesem Kontext nicht von Solidarnosc als von einer Einheit sprechen. In einer totalitären Gesellschaft ist der Konflikt zwischen Gesellschaft und Regierung so stark, daß er alle anderen Interessenkonflikte überdeckt. Je mehr Demokratie und Markt sich in der Wirtschaft durchsetzt, desto mehr werden diese Interessenunterschiede auch politisch eine Rolle spielen. Ich schließe gar nicht aus, daß es dann auch Konflikte zwischen verschiedenen Solidaritäten geben wird, zwischen der Bauerngewerkschaft und der Stahlarbeitergewerkschaft und so weiter...

Bislang galt ja in der Opposition die These, solange man in einem totalitären System lebe, gebe es nur eine antitotalitäre Opposition, aber keine rechte oder linke. Das komme erst anschließend. Nun hat dieses „anschließend“ ja schon angefangen. Die Opposition entwickelt sich in verschiedene politische Richtungen - wo stehen eigentlich Sie?

Ah, jetzt wollen Sie mich auf Ihrer westeuropäischen politischen Landkarte wiederfinden - aber das geht nicht. Wenn Sie mich fragen, wo ich stehe: auf der Seite von Solidarnosc. Sicher, die Opposition teilt sich in verschiedene Lager, in Klubs und Parteien, und die bilden sich auch ein, sie befänden sich auf der westlichen politischen Landkarte. Tatsächlich sind sie auf der Landkarte Vorkriegspolens zu Hause. Die PPS (die kürzlich neugegründete Polnische Sozialistische Partei - d.Red.) bekennt sich ja sogar zu Beschlüssen der Vorkriegsparteitage. Das ist recht interessant fürs politische Museum, aber ob das eine politische Zukunft hat...

Nicht alle orientieren sich an der Vorkriegslandkarte. Die Polnische Ökologische Partei gab's vor dem Krieg zum Beispiel nicht.

Richtig. Aber das ist auch keine Partei. Das ist einfach eine Gruppe von Umweltschützern und Naturliebhabern. Es ist ja überhaupt noch die Frage, ob sich Polen in der Zukunft überhaupt noch auf ein Parteienmodell stützen wird oder ob sich die politischen Konflikte nicht in Gruppierungen ausdrücken werden, die keinen Parteicharakter haben. Die Zukunft könnte ja auch Bewegungen gehören, die gar nicht die Macht ausüben wollen, sondern nur ein bestimmtes Programm ausüben. Parteien bilden sich ja, um zu Parlamentswahlen anzutreten. Und die gibt's ja einstweilen bei uns nicht in dem Sinne, daß diese ganzen neuen Parteien an ihnen teilnehmen könnten. Und da kann man sich ja vorstellen, daß unter den Parteien der Zukunft, die sich um Mandate zu einem zukünftigen Parlament bewerben werden, auch solche sein werden, die nicht regieren wollen, sondern eben nur ihr Programm durchsetzen. Etwa so wie die Fundamentalisten bei den Grünen.

Wenn Sie sagen, der Konflikt Regierung kontra Gesellschaft verdecke die eigentlichen Interessenkonflikte, dann heißt das ja, daß es diese Konflikte auch real gibt...

Ja. Es gibt im Rahmen der Reformdiskussion den Gegensatz zwischen einer rentablen Wirtschaft und der Schließung der Betriebe, die nicht rentabel sind. Aber da dieser Konflikt zur Zeit noch nicht auf der Tagesordnung steht, gibt's entlang dieses möglichen Konflikts auch noch keine politischen Auseinandersetzungen. Noch sind die Berg- und Hüttenarbeiter für die Reform.

Sie haben sich ja die ganze Zeit bemüht, einer Aussage über Ihren politischen Standpunkt zu entgehen. Aber wo stehen Sie denn in dem Streit zwischen einerseits rentabler Wirtschaft und Wohlfahrtssystem andererseits?

Auf der Seite von Solidarnosc. Das heißt, in diesem Fall bin ich für den Wohlfahrtsstaat. Im Zweifelsfall bin ich für etwas weniger Rentabilität und etwas mehr soziale Fürsorge. Aber einstweilen ist das ein Streit unter Ökonomen und keine gesellschaftliche Auseinandersetzung. Und übrigens ein Streit, der auch nicht von Partei zu Partei ausgetragen wird, sondern zum großen Teil zwischen Einzelpersonen und in den Parteien.

Interview: Klaus Bachmann