piwik no script img

KANADADA

 ■  Torontologische Anmerkungen von John Benson

Wenn die Irokesen „Dorf“ meinten, sagten sie „Kanata“, und dabei blieb es dann auch. Denn was Neuseeland für Australien und der Vogelsberg für das Rhein-Main-Gebiet, das ist Kanada in bezug auf die Vereinigten Staaten: gebeutelte Randzone mit verknautschtem Geheimnis. Erst dem Olympioniken Ben Johnson ist zu verdanken, daß wenigstens etwas davon gelüftet wurde, denn was die Diabolika für das Mittelalter waren, sind Anabolika für Toronto. Schon die Air Canada, ein Staatsbetrieb, der gegen seine Privatisierung anringt, ist anders als alle anderen Ärlains und kann mit ihnen aus diesem Grunde kaum konkurrieren, es sei denn, durch den Transport von Uranmüll auf Passagierflügen, obwohl ursprünglich nur Urinproben gebucht waren.

Die Stewardessen, robusten Trapperfrauen des Wilden Westens gleichend, schenken aus hohen Emaillekannen rabenschwarzen Kaffee an stoppelbärtige Pioniere aus, die hier oben leicht seekrank werden. Aber die Stewardessen haben sich mit Kernseife und Himbeergeist imprägniert und sich vor Dienstbeginn linear gestreifte Kostüme mit gestärkten Schürzen angezogen. Ein Gürtel wurde um die Taille und eine Rüschchenfliege um den Hals geschnallt, während die braunen Haare in der Mitte gescheitelt, hinten geduttet und seitlich straff an den Ohren vorbeigebürstet wurden. Dazu schauen sie die Passagiere mit einer wuchtigen Freundlichkeit an, als wollten sie um jeden Preis verhindern, daß man unter der grün-grau karierten Viscosedecke an sie denkt.

Hamburg gilt als Tor zur Welt, Toronto als Tor zum Ontos, griechisch: das Sein. Die Welt kennen alle, den Ontos hält man außerhalb Kanadas für ein Gerücht. Das war es, was Ben Johnsontos, gleichwohl er rannte wie von der Torontel gestochen, letztlich zu Fall brachte. Bestätigt wird diese These in Klaus Theweleits neuem Buch der Könige bereits auf Seite 1. Theweleit hat nämlich das Heideggerssche Motto, Die Wahrheit wird euch frei machen in englischer Übersetzung „über einem TORbogen in TORonto“ gesehen. (2:0) Allerdings überrankte den ersten Buchstaben kanadischer Efeu, weswegen es in Toronto nicht hieß TRUTH WILL MAKE YOU FREE, sondern RUTH WILL MAKE YOU FREE und damit war Ruth Johnson gemeint, die legendäre „Mom“ vom John.

Zum Gedenken an diesen Ontos hat man keinen Flughafen der Welt mit einer fürchterlicheren Deliranz erbaut als den zu Toronto, dem Tor zum, aber das hatten wir bereits. Rundrum ist die Verkehrslage großräumig ameisoid bis bombayhaft und an Sonntagnachmittagen steht der Autoverkehr (hand in hand we stand) rund um den Airport wie ein Mann um die Flugzeuge, während sich hastende Horden von koffertragenden Menschen zwischen den gestauten Autokolonnen entlang - Bürgersteige gibt es nicht - zum Terminal vorzukämpfen suchen wie flagellantische Marathonläufer bei der Adam- und Evakuierung der Stadt nach einem geplatzten Atomreaktor. Trekkin‘ in Kanadada.

Torontologisch gesehen wollen sie also sonntagsnachmittags alle weg aus dem Paradies, beziehungsweise Ben Johnson jubelnd verabschieden oder mit Schimpf und Schande in Empfang nehmen.

Die wenigen Kiefern am Rande des Asphalts wackeln besorgt im Kerosinwind und hoffen einzig, daß, wenn mal wieder einer ihrer Zapfen zu Boden fällt, er noch ein von Cola-Dosen und styroporösen Hamburgerschachteln freies Plätzchen Muttererde trifft. Manchmal aber kracht es in den Fugen des Seins, dann, wenn das Vertraute sich ins Unvertraute wandelt und die Kiefernzapfen vor den Augen des Betrachters selbst zu Cola-Dosen werden. Ein Vorgang, der in Kanada unter dem Namen Torontomorphose bekannt ist. Einige forsche Jugendliche aus Jamaica gehen in die Offensive und hüpfen ghettoblastend, fingerschnickend und hüftwackelnd durch den abgasintensiven Stau, so daß den Insassen, denen dabei schier die Hooligänsehaut kommt, hastig ihre Scheibchen hochkurbeln.

John Benson

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen