Michel Rocard auf der Intensivstation

■ Massenstreiks in Frankreich als erste Bewährungsprobe für sozialistischen Premier / Aus Paris G. Blume

Bereits seit drei Wochen streikt ein großer Teil von Krankenschwestern und anderen Angestellten im Gesundheitsdienst. Am Donnerstag zog fast der gesamte französische Öffentliche Dienst mit einem eintägigen Warnstreik nach. Doch während es den großen Gewerkschaften vor allem um eine globale lineare Lohnerhöhung geht, fordern die Krankenschwestern andere Arbeitsbedingungen. Aber dazu scheint Rocard nicht in der Lage. Er wird mit der Klientel der Sozialistischen Partei, den großen Gewerkschaften, einen Kompromiß suchen.

Unten auf der Straße demonstrieren die Gewerkschaften. Doch vier Stockwerke höher über dem Platz der Republik wird verhandelt. Der niedrige Dachraum ist mit alten Schulmöbeln und einer grünen Stelltafel möbliert. Etwa fünfzehn junge Frauen und Männer in Jeans und Sweater ringen im Qualm von „Philip Morris“ und „Rothmans“ um Luft und Argumente. Die Stimmung ist gereizt, auf den Tischen nur Aschenbecher und Papier. So tagt die nationale Koordination der Krankenschwestern und -pfleger, deren täglichen Kommuniques man in Frankreich derzeit mehr Aufmerksamkeit schenkt als den Äußerungen des Wirtschaftsministers.

Die Koordination ist zerstritten. „Man muß einen Streik auch beenden können“, zitiert Nicole den alten Kommunistenführer Maurice Thorez. Doch Nicole stößt auf harte Opposition. „Die Regierung verhält sich wie ein klassischer Patron“, schimpft Pascal, „sie verspricht viel, aber garantiert nichts.“ Weiterstreiken oder nicht? Die Koordination steht am Scheideweg. Dabei liegen die Tage der Euphorie nur so kurze Zeit zurück.

Hunderttausend folgten vergangene Woche dem Demonstrationsaufruf der Koordination an Krankenschwestern und Verbraucher. Plötzlich wurde der Protest von einer Welle öffentlicher Sympathie getragen. Alles erinnerte an die großen Schüler- und Studentenstreiks im Herbst '86, als viele junge Franzosen die Dynamik einer basisdemokratische Bewegung seit vielen Jahren zum ersten Mal wiederentdeckten. Endlich schien allen klar, daß man sich um den Beruf Krankenschwester lange Zeit zu wenig gekümmert hatte, die Gehälter verwaist und die Arbeitsbedingungen heruntergekommen seien. Daß eine Krankenschwester mehr sein muß als ein nettes Pflegemütterchen. Nun reagierte auch die Regierung. Noch in der Nacht nach der Demonstration empfing Premierminister Rocard die Mitglieder der Koordination. Er hatte keine neuen Angebote, zollte aber Anerkennung. Kurz zuvor hatte sein Gesundheitsminister und enger Vertrauter Claude Evin noch gesagt, er verhandle nur mit Gewerkschaften.

Auf die Euphorie folgte Ernüchterung. Die Regierung ließ sich auf neue Gespräche nicht ein, ihre Versprechen blieben weit hinter den Forderungen zurück. Der nun schon dreiwöchige Streik aber kostete die Krankenschwestern Geld und Nerven. „Rocard will uns versauern lassen“, meint Koordinationsmitglied Eric. In diesem Moment klopft es im vierten Stockwerk über dem Platz der Republik an die Tür.

Man verkündet den Besuch eines persönlichen Gesandten des Premierministers. Plötzliches Schweigen, und herein tritt ein junger Mann in Jeans und Sweater: „Ich bin Arzt für innere Medizin und komme von Rocard. Ich habe schon 'mal einen Parlamentsbericht zum Thema verfaßt.“ Der Besucher nimmt Platz. „Mich gibt es selbstverständlich nicht, und unser Treffen bleibt inoffiziell. Die Presse darf nichts erfahren.“

Hier endet also der Koordinationsbericht. Doch wissen wir jetzt: Rocard hat noch nicht aufgegeben. Immerhin lauten die Lieblingswörter des Premierministers „Dialog“ und „Konzertation“. „Nur mit der Konzertation finden wir den Weg zur Erneuerung des öffentlichen Dienstes“, so Rocard bei der Preisverleihung für den französischen „Manager des Jahres“ am Donnerstag. „Ich vestehe die Ungeduld, aber man muß wissen, daß nicht alles sofort möglich ist, auch wenn dies die Ansprüche nicht ersticken soll.“ Rocard schlägt vor, „gemeinsam den Staat zu modernisieren“. Er bietet Verhandlungen mit den einzelnen Berufsgruppen im öffentlichen Dienst an.

Doch Dialogbereitschaft läßt sich nicht auszahlen. Das weiß wohl niemand besser als der Arbeiter, der höheren Lohn fordert. Rocard erhielt die Quittung prompt: Noch an diesem Donnerstag trat der gesamte öffentliche Dienst in den Warnstreik.

Der Elan der Krankenschwestern hatte die Kollegen von Post, Bahn, Bus und Zoll mitgerissen. Gemeinsam trug sie das Gefühl, unter der Sparpolitik der letzen Jahre am meisten gelitten zu haben. „Ich habe einen jungen Sekretär, der mit Abitur und einem dreijährigen Universitätsstudium zu mir kam. Er bekommt heute 5.500 Francs (ca. 1.700DM) Verdienst ausgezahlt. Das ist kaum mehr als der gesetzliche Mindestlohn“, klagt Mathieu Henry, Ingenieur für sozialen Wohnungsbau in Paris. Henry streikt zum ersten Mal in seinem Leben. „Ich habe die Sozialisten gewählt. Die können doch nicht einfach die gleiche Politik weitermachen.“

Der Ärger im öffentlichen Dienst kommt nicht von ungefähr. Erst in diesem Jahr stellte das Zentrum für Einkommensforschung (CERC) fest, das die Kaufkraft im öffentlichen Dienst von 1984-87 um durchschnittlich 1,3% zurückgegangen ist. Als Wirtschaftsminister Beregovoy zudem verkündete, daß die Steuereinnahmen 1988 12 Milliarden Mark mehr als erwartet betragen würden und sich das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr auf vorraussichtlich 3,8% beliefe, schien die Zeit gekommen, wieder einen größeren Teil vom Staatskuchen zu fordern.

Noch am Freitag setzte sich der Streik bei einzelnen Gewerkschaften bei Bahn und Post fort. Schon ist absehbar, daß Rocard, der bisher gegen eine angeblich „falsche Großzügigkeit“ (Rocard) zu Felde zog, von seinem bisherigen Angebot von 2% mehr Lohn und Gehalt abrückt und zuzahlt. Der sozialistischen Partei, die ihre Wähler im öffentlichen Dienst nicht vergraulen will, wäre es recht, und die Gewerkschaften hätten einen Achtungserfolg errungen. Was aber wird aus den Forderungen der Krankenschwestern, die über einen Lohnzuschlag hinausgehen? Darauf wollte Rocard eine Antwort geben.