: Zur Gemengelage der Nation
■ „Mittelmaß und Wahn“ - aber auch eine geheime Intelligenz. Essays von Hans Magnus Enzensberger
Roland Barthes wurde von seinen Freunden eines besonderen Talents gerühmt: Man könne ihm auch eine Zigarrenkiste vorsetzen, ein paar Stunden später hätte man einen wunderbaren Essay. Die Lektüre von Hans Magnus Enzensbergers „Gesammelten Zerstreuungen“ läßt auf ähnliche Gaben schliessen: Wohin er sich auch zerstreut , ob in den Deutschunterricht, das Wasserrecht, die Weltbank oder die Flickaffäre, man folgt ihm mit Vergnügen und Gewinn. Die Thesen und Urteile sind wohlbelegt, die Beobachtungen und Beweisführungen genau (auch bei „großen“ Themen zählt die Detail-Evidenz der Zigarrenkisten) und formal geben sich Ironie, Witz und stilistisches Können das bei Enzensberger vertraute Stelldichein - perfekt. Zu glatt werden kritische Kritiker auch diesesmal monieren und weiter am Nimbus des Luftikus Enzensberger, des eleganten Tausendsassas und Überfliegers der Unübersichtlichkeit stricken - und damit einmal mehr an der Oberfläche verbleiben. Der lockere Ton, die verführerische Leichtigkeit gewichtiger Argumente, die scheinbare Unverbindlichkeit des Konjunktivs, der Vermutung, des Verdachts, der Andeutung all das deutet auf den ersten Blick auf Unbestimmtheit und Vagheit, eine schlüpfrige Intellektualität. Verlängert man aber Enzensbergers im Möglichen belassenen Analysen ins Wirkliche, tun sich hinter den spielerisch hingetuschten Gegenwartsdiagnosen Abgründe auf. Darüber nicht stolpern kann nur, wer als Ergebnis schweißtreibender Schwerstarbeit am Scheinwerfer der Aufklärung gefälligst polemische Wut, heiligen Zorn und apodiktische Injurien erwartet - davon ist bei Enzensberger wenig zu haben. Er zerstreut Blitzlichter ins chaotische Geschwurbel der Gegenwart - die schwarze Ironie, in der er die Leser stehen lässt, scheint allerdings nicht weniger radikal.
Zum Beispiel das „Lob des Analphabetentums“: „Der Analphabetismus, den wir ausgeräuchert haben, ist...zurückgekehrt, in einer Gestalt der allerdings nichts Ehrwürdiges mehr anhaftet. Diese Figur, die längst die gesellschaftliche Bühne beherrscht, ist der sekundäre Analphabet. Er hat es gut, denn er leidet nicht unter dem Gedächtnisschwund an dem er leidet...das ideale Medium für den sekundären Analphabeten ist das Fernsehen. Wahrscheinlich sind die meisten Theorien, die über dieses Medium aufgestellt worden sind, falsch...Selbstverständlich hat Mr Postman recht mit seiner zentralen Behauptung recht, die da lautet: Fernsehen ist Quatsch mit Sosse. Merkwürdig ist nur, daß er hierin einen Einwand zu sehen glaubt. Der Tatsache, daß es schwachsinnig ist, verdankt das Fernsehen ja gerade seinen Charme, seine Unwiderstehlichkeit, seinen Erfolg.“
Warum Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind, beantwortet Enzensberger unter dem Titel „Null-Medium“, zur Erstveröffentlichung dieses Texts brachte der „Spiegel“ ein Foto, das den Autor in quasi-mönchischer Haltung vor dem TV zeigt - Fernsehen als elektronisches Mandala und infrarotgesteurete Gebetsmühle? Von der Manipulipulationsthese jedenfalls, einer Opposition, der der Nutzer der Medien immer als wehrloses Opfer und der Veranstalter als durchtriebener Täter dasteht, gilt es sich zu verabschieden. Der Zuschauer weiß genau, womit er es zu tun hat: „Vor jeder Programm-Illusion ist er gefeit. Die Richtlinien des Gesetzgebers zerplatzen vor seiner Praxis wie Seifenblasen. Weit davon entfernt sich manipulieren (erziehen, informieren, bilden, aufklären, mahnen) zu lassen, manipuliert er das Medium, um seine Wünsche durchzusetzen. Wer sich nicht fügt, wird per Tastendruck mit Liebesentzug bestraft, wer sie erfüllt, durch herrliche Quoten belohnt. Der Zuschauer ist sich völlig darüber im klaren, dass er es nicht mit einem Kommunikationsmittel zu tun hat, sondern mit einem Mittel zur Verweigerung von Kommunikation zu tun hat...Das Fernsehen wird primär als eine wohldefinierte Methode zur genußreichen Gehirnwäsche eingesetzt; es dient der individuellen Hygiene, der Selbstmedikation. Das Fernsehen ist die einzig universelle und massenhaft verbreitete Form der Psychotherapie...es stellt die technische Annäherung an das Nirwana dar. Der Fernseher ist die buddhistische Maschine.“
Hat also der angeblich dem neuen Zeitalter vorbehaltene Ideen-Großimport aus Fernost längst stattgefunden, ist die Kunst des Fernbedienungsschiessens längst zu einer Art Volks -Zen gereift, ohne daß jemand etwas gemerkt hat? In gewisser Weise ja, nur ist es erst ein Minderheit, die Samstagabend radikal abschaltet um sich dreieinhalb Stunden sagen wir mit ihrem toten Opa zu unterhalten: „Dennoch - die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sind und bleiben denkwürdig, auch wenn der Bildschirm sein großes Vorbild nie einholen wird: jenes Schwarze Quadrat aus dem Jahre 1915, das, streng genommen, alle Sendungen des Nullmediums überflüssig macht.“
Der dirigierende Zuschauer, der sich die Meditation holt, die er braucht, der sekundäre Analphabet, der über alle Kompetenzen verfügt, die „Bild„-Zeitung - „radikaler als ihre Kritiker“, die Friseuse Zizi, deren Wissensspeicher was Mode, Markenartikel, Reklameslogans, Popgruppen, Fernsehserien angeht sich durchaus mit der Bibelfestigkeit des Humanisten Melanchthon messen kann - der allenthalben beklagten Dumpfheit der Massen spricht Enzensberger ein quirliges Eigenleben zu, eine Widerborstigkeit und eine Art geheime Intelligenz, die sie klüger macht, als die „Gesellschaftskritiker“ glauben. Überhaupt, so Enzensberger haben sich die Kritiker der westdeutschen Gesellschaft, die rechten wie die linken, in den letzten vier Jahrzehnten permanent geirrt, und auch die anvancierten Theoretiker der Simulation lagen daneben: „Dumpf wie sie ist fährt die schweigende Mehrheit fort, sich einzubilden, daß die Leute, aus denen sie besteht, alle, und zwar jeder für sich, jeweils sie selber sind...es fällt ihnen gar nicht ein, sich mit einer „Simulation“ zu verwechseln“, sie wissen sehr wohl zwischen dem Familienstreß im TV und dem Ehekrach zu Hause zu unterscheiden.
Wie läßt sich eine derart theorieresistente Gesellschaft beschreiben? Im letzten Essay des Bandes schlägt Enzensberger zwei Kategorien vor, die als wechselseitige Befindlichkeiten diese Gesellschaft prägen, und in der Tat läßt sich eine treffender Kurzformel für den in Kohl kulminierenden sekundären Analphabetismus kaum finden: Mittelmaß und Wahn. Ergebnis der tiefgreifenden sozialen und kulturellen Mediatisierung ist nicht ein öder Einheitsbrei, sondern, so Enzensberger, „ein Gemeinwesen von seltener Buntscheckigkeit. Das Mittelmaß, das in dieser Republik herrscht, zeichnet sich durch ein Maximum an Variation und Differenzierung aus.“ Zum Vorschein kommt dabei eine „durchschnittliche Exotik des Alltags“, golfspielende Metzger, V-Männer mit Schrebergarten, Altphilologen im Warentermingeschäft: „An die Stelle der Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze und Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter Millionen seinesgleichen gar nicht mehr auffällt...Die habilitierte Verruchtheit wird respektiert, das wilde Denken auf Planstellen gesetzt; hysterischee Schreikrämpfe von Tod Revolution Folter Sodomie finden auf jedem Stadttheater statt, Macbeth als Mülldeponie wird von allen aufgeschlossenen Pädagogen empfohlen.“
Und auch der Wahn, der für das 19. Jahrhundert untrennbar zum Genie gehörte, ist von der Routine aufgezehrt.„Profilneurose und Wiederholungszwang sind sein histroischer Überrest. Der geniale Wahn hat ausgelitten; er wird nur noch gespielt und als Amoklauf des Outsiders für die Medien inszeniert. So entstehen Monster auf Bestellung, zahme Wilde, Nibelungen aus Pappmache, Schocks aus zweiter und dritter Hand. Das Mittelmaß...hat das Außenseitertum verschluckt.“ Was für die kulturelle Opposition gegen die Umarmungspolitik des Mittellmasses gilt, gilt auch für die politische: Wenn die Selbstausgrenzung verzweifelte Formen annimmt, führt das in den Wahn. „Der Terrorismus, soweit er überhaupt noch politische Ziele für sich in Anspruch nimmt, agiert diesen Wahn aus. Er führt den Volkskrieg gegen die Mehrheit der Bevölkerung.“ Zu einem Rückfall aus dem „eigentümlichen Gewaltverzicht“ in den gewaltätigen Extremismus wurde das Mittelmaß zuletzt 1977 gezwungen, doch, so Enzensberger, „der deutsche Herbst war ein letztes Rezidiv, eine atavistische Wiederkehr verdrängter Gewaltphantasien. Heute werden terroristische Anschläge auf der fünften Seite der Tageszeitungen abgehandelt. Die Mitte ist zur Tagesordnung zurückgekehrt.“
Die Tagesordnung ist freilich alles andere als beruhigend. „Eben da, wo es scheinbar ohne Einschränkung triumphiert, wo es am zufriedensten ist, nimmt das Mittelmaß seinerseits wahnhafte Züge an.“ Das banalste Beispiel dafür ist das beste: Organisiert in einem an Bravheit nicht zu übertreffenden Club, dem größten Verein der Republik, tritt das automibilisierte Mittelmaß als Selbstmord- und Mordkommando auf den Plan. Auf der Straße werden mehr Opfer dargebracht als alle Terroristen, Atomlobbyisten und Drogensyndikate zusammen dahinraffen, dieses fortwährende Massaker ist das Gewöhnlichste von der Welt.
Bei aller souveränen Heiterkeit, mit der Enzensberger die „Gemengelage“ der Nation ausmalt, die Irritation über das normal abnormeMittelmaß ist ihm anzumerken. Am Ende des Buchs heißt es: “ Mittelmaß und Wahn verhalten sich komplementär zueinander ihr scheinbarer Gegensatz verbirgt ein tiefsitzendes Einverständnis. Ein sozialer Ort, der außerhalb dieser Verwicklung liegt, wird sich nicht finden lassen.“ Also kein Ausweg aus dem Schwarzen Loch der Mitte? Enzensberger ist kein Kochbuchautor und bietet keine Rezepte, seine Essays zementieren vielmehr den Abschied vom Absoluten und zeugen von einem Weltbild, das in der Naturwissenschaft längst zum Standard gehört: Relativität und Unschärfe. Beide Prinzipien sind lange bekannt, es hat aber mehr als 60 Jahre gedauert, bis sie sich jeweils im allgemeinen Bewußtsein und im Alltag niedergeschlagen haben. Die Republik des Mittelmaßes, die die Extreme, das Absolute vermeidet, weil eben „alles relativ“ ist, sie ist gewissermaßen ein Einstein-Universum. Begonnen hat die Stabilität von Mittelmaß und Wahn ziemlich exakt 60 Jahre nach der Formulierung der Relativitätstheorie. Und wiederum 60 Jahre nach Heisenbergs Entdeckung der Unschärfe gibt Habermas Mitte der 80er Jahre die Entdeckung der „Unübersichtlichkeit“ bekannt. Ob da nun ein morphogenetischer Zyklus oder schlicht reiner Zufall am Werk ist, will ich mal dahingestellt sein lassen; Enzensberger jedenfalls schreibt so, wie es in dem vom Beobachterproblem geplagten Quantenzeitalter angemessen scheint: er mischt sich nicht ein, zieht sich als Beobachter tunlichst zurück, soweit, daß er kaum noch zu fassen ist. Vielleicht sind deshalb seine Befunde und Diagnosen so unangreifbar, weil ihnen anzumerken ist, daß hier kein klassicher Beobachter am Werk ist, der ja immer nur sieht was er sehen will, sondern ein Experimentator, der den Quantenzustand des Sozialen möglichst unbeeinflußt läßt. Angreifbar ist allenfalls die Haltung, die vorgibt, nichts Exaktes entdecken zu können, sondern auf Wahrscheinlichkeit und Unschärfe insistiert insofern können sich die Enzensberger-Kritiker in bester Gesellschaft wähnen, auch Einstein stampfte zornig mit dem Fuß als er vom Heisenberg-Universum hörte: „Gott würfelt nicht“
Nun sind Relativität und Quantentheorie nicht der Weisheit letzter Schluß, werden also die Probleme auch nach 100 -jähriger Inkubationszeit nicht lösen - ein Ausweg aus Mittelmaß und Wahn ist nicht in Sicht. Hoffnungen macht allenfalls der allerneuste Zweig der Naturwissenschaft, die Chaosforschung, deren erste Ergebnisse zeigen, daß das, was wir als Ordnung wahrnehmen, aus Brüchen, „fraktalen Strukturen“, Unordnung und Chaos wächst, selbstorganisiert. Die Evolution verläuft nicht linear oder in zielgerichteten Sprüngen, sie schreitet chaotisch-katastrophisch voran. Sollte dieser Gang der Dinge auch für das Soziale gelten? An einer Stelle ahnt Enzensberger, was sich- wenn mein Zyklus stimmt in etwa 50 Jahren - breit durchsetzen wird: “ Der Kern heutiger Politik ist die Fähigkeit zur Selbstorganisiation.“,
Mathias Bröckers
Hans Magnus Enzensberger: Mittelmaß und Wahn, Suhrkamp 1988, 270 Seiten, 28 DM
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