: MißVERSTÄNDlicher Verstand
■ Am Samstag wurde der VERSTAND im Packhaus gesucht: Das Puppentheater Zinnober/Ostberlin spielte „Die Bremer Stadtmusikanten“ und „Die Jäger des verlorenen Verstandes“
Der verlorengegangene Verstand wurde am Samstagabend gejagt. Kasper sah sich mit einem UNVERSTÄNDLICHEN Auftrag konfrontiert, Gretel VERSTAND nicht, warum sie verhaftet wurde, der Gendarm wurde MIßVERSTANDEN, der König verlor fast den VERSTAND, weil er befürchten mußte, daß die Prinzessin den ihren verloren hat, der Gnom bewies einen scharfen VERSTAND, das Krokodil VERSTAND SELBSTVERSTÄNDLICH garnichts...
Urheber dieser Wirrnisse war das Puppentheater Zinnober aus Ostberlin, das am Samstag in Bremen zu Gast war. Die freie Theatergruppe aus der DDR gab in Bremen zwei Gastspiele. Eins für Leute ab 6 Jahre und eins für solche, die am Abend mit nach dem VERSTAND suchen wollten. Das Kinderprogramm mußte geändert werden, statt Rumpelstilzchen gab es die Bremer Stadtmusikanten, weil ein Puppenspieler nicht ausreisen durfte. Das tat aber der Qualität des neuen Stückes keinen Abbruch. Ein eindrucksvolles Schattenspiel des Bremer Lokalmärchens wurde
den zahlreichen kleinen Besuchern geboten. Ein kleiner Drache leitete durch die Bilder auf dem transparenten Paravan, hinter dem die Stockpuppen und Fingerfiguren den Aufbruch der Tiere nach einer besseren Zukunft wunderschön darstellten.
Hauptaugenmerk der Zinnober-Interpretation lag auf der Angst der Tiere vor der neugewonnenen Freiheit, die ihnen, weil so unvermittelt, doch einige Sorgen bereitete. Eine feinfühlige Aufführung des Märchens, das von einer Zeit erzählt, in der es in Bremen noch Berufsaussichten außerhalb des Fleischerhandwerkes gegeben hat.
Am Abend zogen schon 20 Minuten vor Beginn erstaunlich lange Schlagen zum Orchesterboden des Packhauses. Ob dieses Publikumsinteresse an einem Abend, der mit Freimarkt, Roncalli und Fußball zu konkurieren hatte, allein dem Puppenspiel galt, ist schwer zu sagen, vielleicht spielte ein sogenanntes Krawczyk-Syndrom eine Rolle. Wie auch immer: Das Stück hat die große Aufmerksamkeit redlich verdient. Dem Kasper, der
sich im Stück immer mehr zum Universalgenie mauserte, gelang es bereits am Anfang, das Publikum zum „Ja-Jawoll„-Schreien zu animieren; selbst zu der von ihm durchgeführten Teufels -Exorzierung war Mitmachen erwünscht.
Ob Rudi, die tragbare geballte Faust, die phrasen-kloppende Oma, das rülpsende Krokodil, die Prinzessin, die keine „Emotionen mehr runterkriegt“, - alle Figuren hatten Biß und Witz, und es hat wirklich keiner Suche nach politischen Anspielungen bedurft, um sich an diesem Abend zu amüsieren. Daß der König gegen Ende noch seiner Kopfhebemechanik verlustig gehen mußte, war zwar bedauerlich, wurde jedoch perfekt ins Spiel eingebaut. Die insgesamt reichlich intrigante Rahmenhandlung endete wie sie begann, nur Rainer Verstand hat dran glauben müssen. Darin ist sicher auch eine Anspielung auf die politischen Verhältnisse zu sehen.
Kerstin Dreyer
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