: Seh'n oder Nichtseh'n
■ Die ARD-Reihe „Gott und die Welt“ denkt nach über „Junge Juden in Deutschland“
Wann immer sich irgend etwas von öffentlichem Interesse zum soundsovielten Male jährt, wird gefeiert, werden Gedenkstunden abgehalten, gibt es im Fernsehen oder Hörfunk Diskussionen und Filme „zum Thema“ - je nach Anlaß ist dann der Unterton freudig oder betreten. Besonders wenn es sich um runde Zahlen handelt, kennt die sich-erinnernde Geschäftigkeit kein Halten mehr. Das Wie des Erinnerns aber ist meistens der puren Pflicht zum Gedenken untergeordnet. Kein Medium, keine Institution kann es sich leisten, beiseite zu stehen. Und wenn sich, wie jetzt, im November 1988, die Reichskristallnacht oder die Reichspogromnacht zum 50. Male jährt, überbieten sich die öffentlichen Münder in Floskeln des getragenen Besinnens, die natürlich immer gut gemeint sind, aber gerade deshalb in oft verräterischer Weise offenbaren, daß zungenfertige Geschwätzigkeit imstande ist, den Anlaß des Gedenkens zu einem bedauernswerten Ausrutscher der Geschichte hinzubiegen.
Der häufige Gebrauch des glatten Fremdwortes „Holocaust“ ist dafür ein Beispiel. Es wird bei uns seit der gleichnamigen amerikanischen Fernsehserie gern benutzt, wahrscheinlich, weil es eher mit der krokodilstränentreibenden, amerikanisierten Fiktion als mit der verbrecherischen Wirklichkeit verbunden wird. „Holocaust“ hört sich in deutschen Mündern eigentümlich schicksalhaft an. In christlichen deutschen Mündern natürlich auch, das war am Freitag in der ARD-Reihe „Gott und die Welt“ zu hören, wo aus gegebenem Anlaß - über „Junge Juden in Deutschland“ berichtet wurde.
Die Reihe „Gott und die Welt“ hat etwas Redlich -Christliches, Diesseitiges. Man geht nicht etwa nur zum Gottesdienst, sondern reist tätig und berichtend durch die Welt - auch in die „Dritte“ -, packt manches heiße Thema an, auch wenn man sich die Finger nicht verbrennen will. So wie beim Thema „Juden in Deutschland“. Der kommentierende Ton und Unterton bleibt auf der Ebene des 'schlimm war es, was diese armen Menschen erdulden mußten, aber seht her, wie tapfer sie sich berappeln in unserem Land‘. Das hieß selbstverständlich auch: Kein Bild, kein Wort von den jüdischen Gemeinden in Berlin oder Frankfurt, die wegen ständiger Mord-und Bombendrohungen rund um die Uhr unter Polizeischutz stehen. Stattdessen: Eine Familie, die Schabbath feiert, jüdische Schulen oder Jugendzentren gnädiger Kommentar: „Die Ergebnisse der Gruppenarbeit können sich sehen lassen“ -, die einzige jüdische Buchhandlung in der Bundesrepublik, von Rachel Salamander in München aufgebaut, oder das Heidelberger Forschungszentrum, eine Hochschule für jüdische Studien. Zwischendurch Interviews mit Rabbinern, Zionisten, mit dem Rektor der jüdischen Schule, mit Micha Brumlik oder Michael Wolffsohn, Politologe an der Bundeswehrhochschule und ziemlicher Patriot. Interviews jedenfalls, an denen man sehen sollte: 'Die Juden tragen uns den Holocaust nicht ewig nach‘. „Freilich: Die Verwundungen gehen tief“, gesteht der Kommentator ein. Aber uns tut das ja nicht weh, soll es auch nicht, denn: „Juden, die hier leben, haben sich trotz der Zerstörungswut der Nazis seit der Reichspogromnacht den Mut zum Neubeginn nicht nehmen lassen“, und: „Trotz aller schmerzvollen Erinnerungen: Juden leisten wieder einen Beitrag innerhalb der Kultur der Bundesrepublik.“ Ja ist es denn dann nicht höchste Zeit, daß wir ihnen in aller gebotenen Christlichkeit die Hand zur Versöhnung reichen?
Sybille Simon-Zülch
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