: DIE GANZ NORMALE ZERRISSENHEIT
■ „Thin White Rope“ im Loft
Mehr als drei Tage und drei Nächte fährt ein Greyhound-Bus von New York nach San Francisco, durchquert den Kontinent auf direktestem Wege, Klo im Bus, frißt die endlosen, schnurgeraden Highway-Kilometer in monotoner Regelmäßigkeit, nur aufgelockert durch Essenspausen, Fahrerwechsel im 6 -Stunden-Rhythmus und seltene Sensationen wie geplatzte Reifen, überholende Harley-Davidson-Rockertrupps oder mal eine Schlägerei an Bord zwischen besoffenen Rednecks. Die Landschaft ändert sich, doch alles ist sattsam bekannt aus amerikanischen Filmen und Serien, jeden Stein und jeden Baum glaubt man bereits, auf Zelluloid gebannt, gesehen zu haben, jeder Satz, den man versucht zu formulieren, um die Eindrücke festzuhalten, scheint tausendmal gesagt, geschrieben, gehört. Jede Impression zieht Dutzende von Standbildern und Filmtiteln nach sich und macht klar, daß dieses Land längst eine zweite Heimat ist, ohne daß man jemals dagewesen zu sein braucht.
So wie der Besucher sich dort seltsam zu Hause fühlt, kann der Amerikaner überall anders zu Hause sein, wenn er bereit ist, sich ins selbst dorthin tranportierte Klischee zu fügen, denn Dallas liegt auch in Marokko, in jedem Wohnzimmer in der Nische, in der dieser Kasten steht. Als Amerikaner bleibt einem nicht viel mehr, als das vorhandene Wissen fremder Nationen über das eigene Land zu verwalten, immer wieder neu zu reproduzieren und im besten Fall um kleine neue Facetten zu erweitern. So geschichtslos und wenig geschichtsbewußt dieses Land ist, schlägt sich doch jeder (zumindest jeder weiße) Ami mit der eigenen Musikvergangenheit herum, vielleicht sogar mit der Schuld, den Rest der Welt kulturell überrannt zu haben. So ist Rockmusik ein ständiges Wiederkäuen und doch immer wieder neu faszinierendes Stillstehen in verzerrten Gitarren, den berüchtigten drei Akkorden und wabernden Haschischschwaden.
Doch ein Amerikaner wäre kein Amerikaner, würde er sich nicht wehren gegen die ihm auferlegten Klischees, sich wohlig suhlend im Gefühl des einsamen Cowboys, tapfer fechtend gegen die Vorstellungen der Europäer vom Durchschnittsami. Die Bands wehren sich, den Gitarrenhals festumklammert würgend, die Saiten zerrend malträtierend, während sich das Gesicht gegen das Mikrophon drückt, daß es wieder und wieder zur Seite fällt, immer neu festgestellt werden muß. Der Körper zuckt manchmal auf, aber er entlädt sich nicht, statt dessen quellen Laute aus dem Mund, werden herausgepreßt, als müßten sie sich an einer monströs aufgequollenen Zunge vorbeidrängen. Immer neue Wellen von Tönen, manche kommen leichter, niemals unbeschwert, und immer bleibt es manisch, verzweifelt und schwierig, müssen die Augen geschlossen werden, um alle Kraft zu konzentrieren, anzusingen, anzusägen gegen den Gitarrenwall, die endlose Weite von staubigen Highways, die nie enden wollende Zerrissenheit des ganz und gar durchschnittlichen Amis zwischen dem Bild, das die Welt von ihm hat und dem Wehren dagegen, das doch wieder nur ein neues Klischee hinzufügt. Sichwehren gegen zu gerade Straßen und Köpfe und die Monotonie einer Automatikschaltung und den damit verbundenen Wadenkrampf. Auch wenn das Schlagzeug noch so sehr burundet und der Sänger sich quält, die Gitarren an Verstärkern gerieben werden, daß dieser fiese Ton entsteht, der das Klischee brechen soll, bleibt es doch immer verhaftet im großen, allumfassenden Verzerreruniversum, das auch unsere Heimat ist, unsere zweite Identität. Also, wer will es loswerden, wo es doch sinnlos wäre sich dagegen zu wehren? Genieß es, und gib mir den Joint rüber, Mann!
Thomas Winkler
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