: Stirbt der Wald auch am Atom?
Die These vom Anteil der Atomkraftwerke am Waldsterben trifft immer noch den Nerv der Atomwirtschaft / Gegner und Befürworter liegen sich „statistisch in den Haaren“ ■ Von Gerd Rosenkranz
Berlin(taz) - Die öffentliche Debatte über das Siechtum des „Deutschen Waldes“ hielt das Volk in Atem. Die Atomfreunde in den Vorstandsetagen der Stromwirtschaft wurden nicht müde, ihre Atommühlen als Bollwerke gegen die Versteppung bundesdeutscher Mittelgebirgsidylle zu präsentieren. Schließlich steigen aus den Akw-Schloten weder Stickoxide noch Schwefeldioxid gen Himmel. Das war 1983.
Mitten hinein in die aufgeheizte Auseinandersetzung platzte der Biologe Professor Günter Reichelt mit der unerhörten Behauptung, der Baumtod komme nicht zuletzt aus der insbesondere mit radioaktiven Edelgasen geschwängerten Abluft der Atommeiler. Zwei Jahre später lieferte der Bremer Physiker Roland Kollert die passende Theorie zu Reichelts These. Die Atomwirtschaft jaulte auf. Wundern konnte das niemanden, hatten doch die Herren das Weh der Wälder längst mit dem Wohl iher Branche aufs Trefflichste verknüpft.
Fünf Jahre später hat die auf Reichelts empirischen Untersuchungen in der Umgebung von Atomkraftwerken und Kollerts theoretischen Überlegungen basierende These immerhin Eingang in die offiziellen Waldschadensberichte der Schweiz gefunden; zweifelsfrei bewiesen ist sie indes selbst nach Einschätzung ihrer Erfinder nicht.
Kollerts „luftchemische Wirkungs-Hypothese“ unterstellt eine indirekte Waldschädigung durch ionisierende Strahlung. In der Umgebung von Atomkraftwerken, besonders von Wiederaufarbeitungsanlagen, werde der natürliche Strahlenpegel durch die routinemäßige Freisetzung radioaktiver Edelgase zeitweise deutlich erhöht. Dies wiederum beschleunige chemische Reaktionen mit den längst als Waldkiller erkannten Luftschadstoffen Schwefel- und Stickoxiden. Am Ende der Reaktionkette stehen Säuren und Oxidantien, die unbestritten den Wald zugrunde richten.
Grundsätzlich unbestritten sind auch die von Kollert behaupteten chemischen Reaktionsmechanismen. Die Edelgas -Emissionspitzen aus den AKW-Kaminen sind jedoch nach den Beteuerungen der AKW-Betreiber so gering, daß ein meßbarer Effekt völlig auszuschließen sei. Genau das bestreitet Kollert, der seinen Gegnern vorwirft, „aussagekräftige Meßdaten“ über die Emissionspitzen zurückzuhalten. Außerdem seien die zahlreich von Seiten der Atomgemeinde veröffentlichten Gegendarstellungen von „geringer wissenschaftlicher Tiefgründigkeit“.
Dabei soll es offenbar bleiben: Kürzlich scheiterte ein zunächst vielversprechender Versuch des Bund für Umwelt- und Naturschutz BUND, die Kontrahenten an einen Tisch zu bringen, am Veto der AKW-Betreiber. Die Waldschadensforscher Reichelt und Schaller (vom bayerischen AKW-Stromversorger Badenwerk) hatten ihre mit unterschiedlicher Methodik erstellten Untersuchungen in der Umgebung des AKW Isar I bereits „wechselseitig akzeptiert“, sagt BUND-Moderator Wilhelm von Braunmühl. Noch in diesem Jahr sollten ihre Ergebnisse in anonymisierter Form einem neutralen Drittgutachter zur Analyse vorgelegt werden. Im Juni stoppte der Vorstand des Bayernwerks das verabredete Verfahren.
Zur selben Zeit veröffentlichte die „Eidgenössische Anstalt für das forstliche Versuchswesen“ (EAfV) eine detaillierte Untersuchung in der Umgebung schweizerischer Atomanlagen. Ergebnis: „Ein wissenschaftlich eindeutiger Entscheid über Annahme oder Verwerfung der Hypothese ... steht noch aus.“ Im Untersuchungsgebiet seien, formuliert die EAfV vorsichtig, „andere Ursachen als die radioaktive Umweltbelastung durch radioaktive Strahlung in Betracht zu ziehen“. Günter Reichelts Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Nach einer Überprüfung der Schweizer Analyse -Ergebnisse war er sich sicher: Jeder zehnte kranke oder tote Baum im unteren Aaretal gehe auf das Konto der Atomanlagen in Würenlingen und Beznau. Walter Winter, Sprecher der eidgenössischen Versuchsanstalt: „Die liegen sich statistisch in den Haaren.“ Es sieht nicht so aus, als würde sich daran bald etwas ändern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen