: „Reichskristallnacht“ - ein Euphemismus..
... der abgeschafft werden sollte? / Ein Plädoyer, den 9. November 1938 nicht im Alltag des Terrors untergehen zu lassen ■ Von Barbara Noack
„Reichspogromnacht“ soll sie in Zukunft heißen. Zu schön, zu harmlos sei „Reichskristall
nacht“ als Name für den grausamen Auftakt der Vernichtung von Hab und Gut und schließlich Leben der jüdischen Bürger in Europa. Die Frevel in der Nacht
des 9. Novembers 1938 könnten so nicht angemessen bezeichnet werden, meinen die PolitikerInnen, die Kirchen, die, die sich von Amts wegen für die Verar
beitung unserer Vergangenheit engagieren.
50 Jahre „Reichskristallnacht“ - haben wir 50 Jahre lang
den falschen Begriff verwandt, als ein Zeichen unserer kollektiven Verdrängung etwa?
Seit ich als Schülerin den Begriff kennenlernte (20 Jahre nach dem Ereignis), verband ich mit ihm Zerstörung, Kälte und Zynismus. Ich verband damit das Klirren von Glas, die eisige Kälte von Kristallen, die Dunkelheit der Nacht, in der die Gesichter der Täter anonym blieben und die Opfer besonders wehrlos waren. „Reich“ stand mir für die nationale Billigung der Taten und das ganze Wort für den Zynismus der Nazis, die aus den Verbrechen dieser Nacht ein festliches Ereignis machten. Insgesamt ein Ausdruck des Grauens.
Kann „Reichspogromnacht“ dieses Grauen noch adäquater beschreiben? Pogrome gab es und gibt es (leider) vielerorts. Wollen wir uns einreihen in die Schar derer, die Minderheiten verfolgten und verfolgen, um weniger aufzufallen? Sind wir auch nicht anders als andere?
Damit lassen wir die Einzigartigkeit der Nazi-Verbrechen zurücktreten, es verschwindet das besondere Ausmaß und die unvergleichliche Systematik, mit
der wir Deutschen vorgegangen sind. Wir werden zu einem Verfolger unter vielen!
Und wie kommt es, daß uns das „Reich“ nach wie vor so leicht über die Lippen geht wie den Nazis? „Reichspogromnacht“ wie „Reichsparteitag“ oder „Reichskulturkammer“? - was für eine absurde Wortschöpfung also! Ungebrochen übernehmen wir einen Teil des Nazi -Wortschatzes in unsere vermeintliche Verbesserung.
Diffuser könnte ein Begriff nicht sein - aber er ist wohl ein Symbol unserer Zeit: schnell geschaffen aus aktuellem Anlaß, verbreitet er sich als Schlagwort, medienverstärkt.
Unsere gutgemeinte Absicht, der Geschichte Rechnung zu tragen, stößt ins Leere wie so viele Umbenennungsaktionen, mit denen wir in jüngster Zeit die Namen zu tilgen versuchen, die Symbole für belastende Vergangenheit sind: Weg mit der Langemarckstraße, weg mit der Lüderitzstraße. Tilgen wir mit den Namen, an denen wir uns reiben, nicht auch ein Stück Geschichte, die uns warnend im Gedächtnis bleiben sollte?
Vorsicht vor den Umbenennungen!
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