: Gedächtnisschwund
■ Fragwürdige Gedenkfeiern zu den Novemberpogromen
Am 27.Oktober lehnte der Ältestenrat des Deutschen Bundestages eine Teilnahme des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Heinz Galinski, an der Gedenkstunde des Parlaments zu den Novemberpogromen ab. Er tat dies mit formalen Begründungen; eine Debatte fand nicht statt.
Am 26.Oktober schrieb diese Zeitung, daß eine Diskothek „gaskammervoll“ gewesen sei. Diesen Text entschuldigend, meinte eine Redakteurin einige Tage später, schließlich lache auch jeder heimlich über Judenwitze.
Am 2.November warnte Bayerns Innenminister Edmund Stoiber vor einer „multinationalen Gesellschaft auf deutschem Boden“, die „durchmischt und durchrasst“ sei. Nach Protesten erklärte Stoiber, die SPD wolle offensichtlich eine Tabuzone um das Problem der Asylbewerber errichten, er selber sei aber gerne bereit, um nicht über Worte streiten zu müssen, auf den Begriff „durchrasst“ zu verzichten.
Am 4.November erklärt Staatsminister Schäfer (FDP) angesichts des Ergebnisses der demokratischen Wahlen in Israel, man werde über die weitere Gewährung von Entwicklungshilfe der Bundesrepublik Deutschland an Israel nachdenken müssen. Alle Appelle an ein humaneres Vorgehen „der Israelis“ in den besetzten Gebieten hätten bisher nicht gefruchtet.
Am 9. November wird Bundeskanzler Kohl in der Frankfurter Westend-Synagoge zusammen mit Vertretern des Zentralrates der Juden und Bundespräsident Weizsäcker der Opfer der Judenpogrome vor 50 Jahren gedenken. Nein, Kohl wird nicht über die Gefahren „durchrasster“ Gesellschaften reden. Nein, Schäfer wird nicht über „die Israelis“ sprechen – vielleicht findet man ihn ebenso wie Stoiber in einer Gedenkveranstaltung über „die Juden“. Die taz? Sie wird mit Sonderseiten zur Pogromnacht herauskommen, in denen von „gaskammervoll“ nicht die Rede ist. Nicht nur der 50.Wiederkehr der Reichspogromnacht sollte diese Gesellschaft gedenken. Sie sollten ihr Kurzzeitgedächtnis auffrischen, sich erinnern, was erst vorgestern gesagt worden ist. Und sich schämen.
Klaus Hillenbrand
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