: Alles ein Mißverständnis?
■ Der Eklat um die Jenninger-Rede beruht nicht nur auf dem rhetorischen Unvermögen des Redners
Ex-Bundestagspräsident Jenninger ist erschrocken und fühlt sich mißverstanden. Viele hätten ihn offenbar nicht so verstanden, wie er es gemeint habe. Das mag subjektiv stimmen. Tatsächlich ist die Erregung jedoch nicht nur aus der Diskrepanz zwischen gesprochenem Wort und Text zu erklären. Die Rede offenbart ein Geschichtsverständnis, das sich in rechtfertigender Selbstkritik erschöpft.
„An Auschwitz werden sich die Menschen bis an das Ende der Zeiten als einen Teil unserer, der deutschen Geschichte erinnern. Deshalb ist auch die Forderung sinnlos, mit der 'Vergangenheit Schluß‘ zu machen. Unsere Vergangenheit wird auch nicht ruhen, sie wird auch nicht vergehen.“ Auch diese Sätze stehen in Jenningers Rede. Sie müssen zitiert werden, denn Jenninger muß auch davor geschützt werden, daß er künftig in eine Reihe mit Ernst Nolte und anderen verstockten Relativierern der Massenvernichtung gestellt wird. Es muß verhindert werden, daß diese Sätze durch seinen Rücktritt mit verschluckt werden. Solche Aussagen bewegten wohl auch Hellmut Karasek und Stefan Heym - am Donnerstag abend in der Berliner Akademie der Künste bei einer Podiumsdiskussion zum Thema -, die Rede „erstaunlich“ zu nennen. Sie begrüßten, daß selten so klar die Mitschuld des deutschen Volkes vor dem Bundestag auf die Tagesordnung gesetzt wurde; sie betonten den Mut, die schrecklichste deutsche Rede, Himmlers Ansprache vor SS-Führern 1943, der zuhörenden Nation erneut vorzusetzen. Ein seltener Fall hierzulande, der Fall Jenningers: der zweite Mann im Staate, ein gestandener CDU-Politiker, muß den Hut nehmen, begleitet vom Lob der verhaßten Linksintellektuellen.
Was hat Jenninger getan? Er hat die Rede, die jene zitierten Sätze fordern, nicht gehalten. Man begreift seine Ansprache nicht, wollte man jetzt nach „schlimmen“ Stellen suchen. Nur wenige haben sich als zitierfähig erwiesen. Auch läßt sich der verheerende Eindruck der gehaltenen Rede kaum nachlesen. Dennoch: nichts wäre falscher, den Hinweisen der 'FAZ‘ zu folgen und zu meinen, nicht die Rede, sondern der Redner sei gescheitert. Auch der Vorwurf, das schlimme an der Rede sei das, was fehle: das Gedenken, die Erschütterung, die Betroffenheit ist zwar richtig, aber er greift zu kurz.
Jenninger wollte einen originären Beitrag zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit liefern. Mit exemplarischer Sturheit hat er auf seinem alleinigen Rederecht beharrt, die mögliche Konkurrenz von Galinski weggebissen. Er wollte es sich auch nicht bequem machen und sich in jenen bedenklichen Trauerkonsens einreihen, verzichtete auf Gedenkrhetorik: „Die Opfer wissen nur zu genau, was der November 1938 für ihren künftigen Leidensweg zu bedeuten hatte - wissen wir es?“ Ein hoher Anspruch also!
Und so rollt Jenninger die Geschichte auf, die Geschichte als Rollbahn zu den Toren von Auschwitz. Die Schuld wird nicht geleugnet - aber etwas anderes wäre auch gar nicht denkbar. Es beginnt eine Collage von kleinen Unrichtigkeiten, Ungenauigkeiten an der falschen Stelle. „Die Bevölkerung verhielt sich weitgehend passiv“ im November 38. Wer hat dann geplündert? Im Frühjahr „konzentrierten“ sich die NS-Herrscher „verstärkt“ auf die „Arisierung der Wirtschaft“. Nicht falsch von der Faktizität her gesehen, ganz falsch aber gegenüber der historischen Wahrheit. Die Juden waren schließlich das Eldorado der Deutschen, der Raub begann 1933 und auf allen Ebenen, vom Reich im allgemeinen bis zum letzten Einzelhändler lohnte sich die Verfolgung der Juden. Aber in diesem Stil werden die Tatsachen genannt und verkleinert, und immer wieder taucht die Anonymität der NS-Herrscher auf, die „letztlich“ alles verantworten. - Jenninger geht in die Geschichte, der deutsche Antisemitismus nach dem Gründerkrach und der unverarbeitete Kapitalismus. Erklärungstopoi von vier Jahrzehnten politischer Bildungsarbeit. Und je mehr er in die Geschichte geht, desto mehr verliert sich sein Erkennen in den abgegriffenen, längst schon zerlegten Klischees von der „verspäteten Nation“. Fast scheint es, als ob die Veröffentlichungen der Bundesanstalt für politische Bildung Jenningers aktuelle Lesefrucht bildeten. Nicht zuletzt deswegen ist seine Rede ein Dokument, ein Dokument für das Scheitern obligatorischer Bildungsarbeit.
Dann die Erklärung von Hitlers Erfolg: Massenarbeitslosigkeit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Versailler Vertrag, Demütigung - dagegen der Erfolg durch den Erfolg: Wiedereingliederung der Saar, Olympische Spiele, Vollbeschäftigung, „Anschluß“ von Österreich etc. etc. Jenninger: das „Faszinosum“, daß es in der „deutschen Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers“ gab. Jenninger will verstehen, aber das Verständnis eilt voraus. Selbst Hitler erweist sich als erklärbar: „Elend der Kindheit“, „Demütigungen der Jugend“, „gescheiterter Künstler“, und in dieser Art weiter. Ist ihm beim Schreiben nicht der Gedanke gekommen, daß dieses Einfühlungsvermögen einem Überlebenden von Auschwitz besser nicht präsentiert wird? Allerdings: Wenn ihm dies aufgegangen wäre, hätte er diese Rede auch nicht geschrieben.
Verfehlte Bildungsarbeit
Jenninger widmete die Hälfte seiner Rede der Frage „wie es dazu kam“. Was er zu Tage fördert, ist nicht Begreifen, sondern Verständnis, deutsches Selbstverständnis. Die ganze 40 Jahre alte Leier, daß die Deutsche gar nicht anders konnten als Hitler zuzustimmen, selbst Hitler konnte nichts anderes als Hitler sein. Es ist diese rechtfertigende Selbstkritik, die Fortentwicklung der „verfolgenden Unschuld“, die Larmoyance gegenüber einem Klischee von einem historischen Verhängnis, das dem deutschen Volk den totalen Verzicht auf Menschlichkeit auferlegte. Es ist die Bereitschaft, Psychologie und Soziogenese der Täter den Nachgeborenen als Erklärung anzubieten, eine Erklärung, die nichts anderes ist als die Methode eines verstockten Kindes, das ein Versagen weitschweifig mit der Erklärung der Umstände rechtfertigt. Dieser Zug geht durch die Rede, schimmert durch Details und Zitate durch.
Wenn aber diese Erklärungsmethode scheitert, dann kommt wieder der altbekannte Wahnsinn der NS-Herrscher: „Noch als anderswo am Bau der Atombombe gearbeitet wurde, verkündeten Himmler und andere diese an Idiotie grenzenden Vorstellungen (der Rasse, K.H.) mit der ermüdenden Eintönigkeit von Geisteskranken.“ Das Verständnis begreift nichts, nicht daß Rassismus und moderner Staat, Massenvernichtung und Modernisierung, Untergang des Dritten Reiches und Entstehung der Nachkriegsgesellschaft miteinander zusammengingen. Nein, der Versuch, aus Jahrzehnten der Leugnung unvermittelt ins kritische Bewußtsein umzuschwenken, ist exemplarisch gescheitert. Jenninger hat das Gespenst der „guten Mehrheit“ weggewischt, hat in individueller Anstrengung erarbeitet, was die schweigende Mehrheit immer schon dachte; er hat die Fehlleistung im Namen der Nation begangen.
Klaus Hartung
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