: Etwas weiter gedacht-betr.: Kommentar "Sprachlos", taz vom 2.11.88
Betr.: Kommentar: „Sprachlos“ von Thomas Rogalla,
taz vom 2.11.88
Der AL-Abgeordnete Volker Härtig übernimmt in der „Ausländerfrage“ die Position von Heinrich Lummer. Die Unterschiede sind nur kosmetischer Natur und der verschiedenen Parteizugehörigkeit geschuldet. (...) Im Kern sind sie sich einig: Die Fremden bedrohen unsere Lebenswelt, in diesem Falle das Mittelstandsgrün. Die Beschwörung drangvoller Enge durch den Zuzug von 200.000 Einwanderern bis 1995 wirkt albern in einer Stadt, die in den letzten 25 Jahren fast eine halbe Million Einwohner verloren hat.
Heidi Bischoff-Pflanz befürchtet daher andere Motive und fühlt sich an Gedankengänge der „Rassenhygiene“ erinnert. Daraufhin empört sich Thomas Rogalla ausgerechnet in der taz, die mit Neo-Nazi-Sprüchen im eigenen Haus kaum fertig wird, dies sei eine Verharmlosung des Nationalsozialismus. Nicht Härtig steht im Mittelpunkt der Kritik, sondern Bischoff-Pflanz, eine völlige Verkehrung des politisch Notwendigen. Könnte es nicht sein, daß Heidi Bischoff-Pflanz etwas weiter gedacht hat als ihre vorschnellen Zurechtweiser? Daß nämlich Verteidiger von Grünflächen gegen Osteinwanderer auch etwas dagegen haben können, wenn Heime für geistig Behinderte oder Wohnplätze für Zigeuner die schmucken Siedlungsgebiete der „Eingesessenen“ verschandeln?
Kann es sein, daß Thomas Rogalla nicht weiß, daß Rassenhygiene keineswegs eine Erfindung der Nazis war, sondern eine „Errungenschaft“ des 19.Jahrhunderts, gerichtet gegen das in den Slums zusammengepferchte Proletariat, das so gar nicht den Vorstellungen einer lichtvollen Zukunft des Menschengeschlechts entsprach, die sich die bürgerlichen Eugeniker ausmalten und die sie von den verelendeten Massen bedroht sahen, deren schädliches Erbgut konsequenterweise ausgemerzt werden sollte? Daß das, was gegen die eigene Bevölkerung praktiziert werden kann, erst recht für „Wesensfremde“ gilt, wobei das Feindbild das Fremdländischen vorzüglich geeignet ist, die „Volksgemeinschaft“ zu stabilisieren. Daß also, wenn Härtig meint, die sozial Schwachen im Bezirk Kreuzberg gegen die Immigrantenflut verteidigen zu müssen, er in der Tradition einer sozialen Demagogie steht, die... Nein, ich sage jetzt nicht, an wen sie erinnert, denn dann würde wieder eine Diskussion über „Verharmlosung des Nationalsozialismus“ losbrechen, bestens geeignet, vom eigentlichen Skandal abzulenken.
Frank Dingel, Berlin 62
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