Es lebe Gott, es lebe der Kaiser

■ 1964 wurde Peter Weiss‘ Stück „Marat/Sade“ als bedeutendes Bühnenstück gefeiert: Heute das Stück seinen Reiz verloren: Premiere in der Fabrikhalle

Die Gäste in der kahlen Fabrikhalle Industriestraße befinden sich im Badesaal des „Hospizes zu Charenton“, dessen Direktor im Januar 1808 das geladene Publikum mit einer vom Marquis de Sade einstudierten Moritat aus der blutigen Französischen Revolution erfreut. Die Zuschauer werden zum Teil der Szenerie, der Direktor Coulmier (Lutz Schmidt) sitzt unter ihnen, um gelegentlich ins Spiel einzugreifen, wenn Patienten aus der Rolle fallen, oder um als Zensor aufzutreten. Wenn der Vorhang zum Spiel im Spiel fällt, öfnet sich im Hintergrund eine Tür und die Patienten mit Pflegerin betreten den Raum. Links sitzt Marat (Frank Albrecht) mit nacktem Oberkörper und Kopftuch totenblass in der Wanne, vor sich eine Schreibmaschine, rechts Charlotte Corday (Birgit Walter), seine Mörde

rin. Der „Ausrufer“ in Habitus und Kleidung clownesk übernimmt die Moderation.

Peter Weiss‘ „Marat/Sade“ ist ein Theaterstück, in dem es um den Konflikt zwischen Individualismus und politischem Engagement geht, vorgeführt an zwei historischen Figuren der Revolution, die Weiss in der Phase der napoleonischen Revolution disputieren läßt. 1964 wurde es gefeiert als das „erste bedeutende Bühnenstück eines Deutschen nach Brechts Tod, das aus der bundesrepublikanischen Enge in die Welt ausbrechen könnte“, so eine Rezension der Berliner Uraufführung am Schillertheater.

Und heute? Was ist davon geblieben? Die raffinierte und damals bewunderte Technik der Verschachtelung, der mehrfachen Brechung von Ort, Zeit und Raum, hat ihren Glanz verloren. Was spektakulär war, die Mischung aus Musik, Sprache, Pantomime, Clownerie und Drama, wirkt heute eher bemüht und angestrengt. Das Stück ist nach 25 Jahren schwächer geworden. Die bühnenwirksamen Mittel haben sich abgenutzt.

In der Inszenierung von Ralf Knapp wird diese Schwäche nicht weggespielt, sondern sichtbar gemacht. Knapp inszeniert, das tur

bulente Spektakel verhalten und leise. Die Anstaltsinsassen drohen nur selten aus der Rolle zu fallen, die Ordnung der Anstalt ist niemals gefährdet, es gibt am Ende keinen chaotischen Aufstand, der von Pflegern mit Knüppeln niedergeschlagen wird.

Mit dieser Verschiebung der Akzente wird auch die Distanz zu den 60er Jahren reflektiert. Die revolutionären Töne werden nicht wachgerufen. Ein melancholischer Grundzug prägt den Charakter der Inszenierung, nicht Tempo und Schnelligkeit, nicht untergründig brodelndes Leben, sondern langsame Gesten. In den Mittelpunkt rückt Charlotte Corday. Sie ist weniger die karikierend gezeichnete Konservative, das schlaftrunkene Werkzeug der Reaktion, als die sehnsüchtige Träumerin, die mit langem Messer in der erhobenen Hand in der Bühnenmitte steht, zwischen den Antipoden Marat und de Sade, bis sie sich zu Marat in die Wanne setzt, zeitlupenhaft mit der Messerspitze über seinen Körper fährt. Eins der eindrucksvollsten Bilder dieser Inszenierung, zu dessen überragenden schauspielrischen Leistungen Therese Dürrenbergers Darstellung der Patientin gehört, die mit höchster Anstrengung Marats Haushälte

rin Simone spielt, ihn vor der Mörderin zu schützen sucht und gelegentlich ein Tuch, die Trikolore über seine Schultern legt. Frank Albrecht als Marat sitzt malerisch in seiner Wanne, aber schreit gelegentlich so schrill, daß seine politische Ansprache jede Überzeugungskraft verliert. De Sade (Benno Ifland) ist kein vitaler Zyniker, sondern ebenso gezeichnet wie Marat, ein kränkelnder Mann (mit Hustenanfällen), aber mit einer angenehmen ruhigen Stimme, die ihn von vornherein sympathisch erscheinen läßt.

Der revolutionäre Mönch Roux spricht das resignative Schlußwort: „Wann werdet Ihr sehen lernen? Wann werdet Ihr verstehen?“

Ein offenes, fast ratloses Ende. Was ist zu lernen aus diesem Stück? Mir scheint es eher eine Erinnerung an die 60er zu sein, ein schwacher Abglanz, ein trauriges Resümee.

hh

16., 17., 19., 27.11., 20 Uhr, Fabrikhalle