: Vom alternativen Kleinbürgertum
■ Ein Plädoyer mit der Bitte um Vergebung und der Hoffnung auf revolutionäre Elemente
Was sich seit den siebziger Jahren hierzulande entwickelt hat an „alternativer“ Ökonomie oder an „Aussteiger -Wirtschaft“, ist nichts weiter als der Versuch, das speziell in Deutschland gezähmte oder plattgewalzte Kleinbürgertum wieder zu altem Leben zu erwecken und eine Infrastruktur aufzubauen, die Platz bietet für unangepaßtes Leben und Arbeiten, für neue Ideen und alte Verrücktheiten: ein Projekt des Anachronismus. Wir wollen uns nicht mit unseren kleinbürgerlichen Klassengenossen der Revolution von 1848 vergleichen (auch wenn mancher von uns aus politischen Gründen die Weihen eines Kleinunternehmers empfangen mußte); wir wollen uns angesichts des bescheidenen Umfangs unserer kleinteiligen Ökonomie auch nicht mit der traditionell gewachsenen und relativ stabilen kleinbürgerlichen Kultur Italiens, Frankreichs oder Spaniens auf eine Stufe stellen. Und wir wollen den Mut und die Kühnheit eines Gustav Landauer oder Erich Mühsam nicht unseren kleinen Risiken gleichsetzen. Aber wir möchten doch zu bedenken geben, daß wir immerhin den Versuch machen, an solche Traditionen wieder anzuknüpfen. Und auch wenn das in Ihren Augen besonders verwerflich ist, wir tun das aus purem Eigennutz: Wir haben das unzeitgemäße Bedürfnis nach selbstbestimmtem Arbeiten und Leben, wir haben Lust an der Vielfalt und Lust an - auch politischer - Widerspenstigkeit. „Piccolo e bello“ flüstern uns die Italiener verführerisch zu, „Soyez realistes, exigez l'impossible“ die Franzosen. Und verhalten antworten wir ihnen: „Du hast keine Chance, aber nutze sie.“ Wir wissen, daß wir dabei oft eine Gratwanderung zwischen „Untergang und Anpassung“ machen, daß unter uns ganz ordinäre „Krämer- und Händlerseelen“ heranwachsen, daß die politischen Ziele oder besser: ein politisches Selbstverständnis in der alltäglichen Durchwurstelei oft nicht mehr auffindbar ist. Aber wir versprechen, uns zu bessern, weiter zu wachsen, widerborstig zu bleiben, allen Unken- und Nachrufen die Stirn zu bieten, weiterhin lieber uns auszubeuten als uns ausbeuten zu lassen. Ein letztes Mal, Hohes Gericht, wollen wir mit Ihrer Genehmigung aus dem schon zitier ten „Sachwörterbuch der Geschichte“, Stichwort „Kleinbürgertum“, zitieren: „In den kapitalistischen Ländern eröffnet die fortschreitende Krise des Kapitalismus immer günstigere Perspektiven für die Schaffung breiter antimonopolistischer Koalitionen, die das städtische und ländliche Kleinbürgertum einschließen und von der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei geführt werden.“
Hohes Gericht, dieser Perspektive sehen wir nicht nur freudig entgegen, wir trainieren sogar gezielt auf sie hin. Erstens, indem wir unsere Existenz als ideale Bündnispartner nicht nur sichern, sondern sie auch nach Kräften ausbauen. Und zweitens, indem wir uns zu fast jeder Schandtat im Rahmen der angesprochenen Koalitionen feierlich bereit erklären. Was die revolutionäre Partei betrifft, Hohes Gericht, so möge sie sich bei Bedarf an uns wenden. Unsere Adresse ist bekannt.
Rainer Nitsche (gekürzt aus: „Der Mehringhof, ein unmöglicher Betrieb“, Transit-Verlag
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen