piwik no script img

800 KILOMETER SÜDLICH VON BRÜSSEL

■ „Intelligenter Tourismus“ statt Wein? Das Languedoc und der Gemeinsame EG-Markt

Mitten im sommerlich heißen Languedoc, im verschlafenen Dorf Aniane. Unter den schattenspendenden Platanen des Cafe au Pavillon döst der Wirt vor sich hin. Die etwa hundert Lehnstühle aus weinrotem Plastik sind fast alle unbesetzt schon ab Ende August, wenn die Urlaubszeit in Frankreich zu Ende ist, ist es mit dem sommerlichen Trubel vorbei. Vorher konnten die Feriengäste noch auswählen, in welchem der umliegenden Dörfer sie sich abends auf einem der Volksfeste, den „fetes locales“, vergnügen wollten. Jetzt ist die Gegend in einen spätsommerlichen Dämmerschlaf verfallen, bis Mitte September die Weinlese beginnt.

Aniane ist wieder unter sich. Ein Hauch von Süden und von Armut hängt in den durch die Sonne erhitzten engen Gassen. Die wuchtigen, das Dorf überragenden Mauern des ehemaligen Benediktinerklosters liefern das beliebteste Postkartenmotiv der Touristen. Sie bekommen nicht mit, daß die französische Justiz darin, fernab der Stadt, „schwer erziehbare“ Jugendliche aufbewahrt. Die andere Hälfte des Ortes, abgeschieden und aus schmucken, modernen Einfamilienhäusern bestehend, ist auf dem Stadtplan für die Touristen gar nicht verzeichnet. Pendler wohnen da, die eine halbe Autostunde entfernt im aufstrebenden Regionalzentrum Montpellier arbeiten.

Rundherum dehnt sich eine Hügellandschaft, von den Lagunen am Meer bis zu den Cevennen. Ihre farblichen Schattierungen erhält sie von den Grüntönen der Weinpflanzungen. Wein - das ist das Thema im Languedoc. Vin de table de l'Herault kostet kaum mehr als abgefülltes Trinkwasser aus der Auvergne. Niemand will ihn noch. Die durstigen Franzosen lassen sich lieber von klingenden Markennamen wie Bordeaux oder Beaujolais inspirieren. Oder sie greifen zum Bier, wovon im Biergarten von Aniane an die hundert Sorten aus zwanzig Ländern angeboten werden. Der Billigwein aus dem Languedoc ist den Geschmäckern nicht mehr gut genug.

Dabei hatte der „Proletentropfen“ der Gegend einst durchaus Reichtum geschenkt, seit Ende letzten Jahrhunderts der Rebbau von Paris gefördert wurde, um die wachsende französische Arbeiterschaft billig mit der Droge zu versorgen. Nicht als edler Tropfen, sondern tonnenweise wurde das Zeug produziert, insgesamt ein Zehntel der Weltproduktion. Nicht auf Qualität, sondern auf Quantität kommt es den Kellerei-Genossenschaften, die die Trauben von den Kleinbauern aufkaufen, noch heute an. Wer hier in der Gegend guten Wein kaufen will, sollte deshalb zu einer privaten Kellerei gehen, rät Eric, Animateur bei der staatlichen Touristik-Initiative.

Die ländliche Wirtschaft lebt im Rhythmus der Weinpreise, und die sind zu niedrig. Spanien und Süditalien können den Tafelwein billiger anbieten, klagt Eric, weil sie erstens auf größeren Flächen, zweitens mit mehr Maschinen und drittens bei geringeren Löhnen produzieren. Die Leidtragenden sind die Weinbauern, während einige Großhändler weiter Geschäfte machen. Tanklaster schaffen den spanischen Wein durch Südfrankreich zu den Bordeaux- oder Beaujolais-Kellern, wo er dann mit dem Originalwein gepanscht wird. Das ist der „Gemeinsame Markt“, dem auch der kommunistische Bürgermeister von Aniane nichts entgegenzusetzen hat. Sabotageakte der Languedoc-Bauern schon vor über zehn Jahren konnten die Tanklaster nicht aufhalten. Die offizielle Arbeitslosenrate im Departement Herault beträgt heute über 15 Prozent.

Die Verlagerung des Weinbaus in die südlichen Mitgliedsländer wird von der EG-Landwirtschaftspolitik gefördert. 40.000 Francs pro Hektar, berichtet unterwegs ein Bauer aus Gignac, zahlt der Staat für das Ausreißen der Rebstöcke. Der Bauer kennt viele Ältere, die die Prämien kassieren und dann in den Ruhestand gehen. Viele Felder sind bereits verlassen und mit dornigem Gestrüpp oder wildem Wein bedeckt, die Böden karg und von der jahrzehntelangen Monokultur ausgelaugt. Er selber versucht es mit Tomaten und Pfirsichen, makellosen Riesenpfirsichen so groß wie Boule -Kugeln. Erfolgreich ist auch Bruno, der seinen geerbten Familienbetrieb teilweise von Wein auf Bio-Gemüse umgestellt hat. Sein Erfolgsrezept ist der Direktverkauf: Die überaus appetitlich drapierte Frischware verlockt Einheimische wie Reisende zum Kauf. Wer ihn fragt, erfährt, daß auch der Wein aus seinem Betrieb an die herkömmlichen Keltereien geht und das Gemüse den Einflüssen der chemischen Landwirtschaft rundherum ausgesetzt ist.

Andere Bauern wandern einfach aus, falls sie nicht an der Küste Arbeit finden. Die Strukturplaner in Paris und Brüssel wollen die französische Mittelmeerküste zu einem Touristenpark machen. Das supermoderne Seebad La Grande Motte wird nicht der einzige Standort der metropolitanen Freizeitgroßindustrie bleiben. Der „tourisme intelligent“

Wenn der Weinbau kein Einkommen mehr bringt, und wenn die Massen der Erholungssuchenden alle nach La Grande Motte oder Cap d'Agde strömen, dann, so die Überlegung von Sozialarbeiter Jean-Pierre, bietet für ein Dorf wie Aniane eine Art „intelligenter Tourismus“ eine Chance, vom Erholungskonsum der Habenden aus dem Norden der EG mitzuprofitieren. Es gelte, die bildungs- und erlebnishungrigen Urlauber, deren Ansprüche die stupide Tourismusindustrie nicht zu erfüllen vermag, anzuwerben. Immerhin ist die Umgebung reich an historischen Stätten aus der Zeit der Religionskriege, an landschaftlichen Attraktionen wie den zahlreichen Höhlen, der Schlucht des Herault mit Möglichkeiten zum Wandern, Kajakfahren und Schwimmen.

Jean-Pierre hat mit anderen Lehrern aus der Umgebung eine Feriensprachschule für Französisch aufgebaut, eben im Sinne des „intelligenten Tourismus“. Die Kursusteilnehmer schaffen nicht nur zusätzliche Nachfrage nach Croissants für das reichlich vorhandene Bäckerhandwerk, sondern auch für Bio -Gärtner Bruno, mit dessen Gemüse der Schulkoch die Lernenden verpflegt. Andere Findige bieten „Ferien auf dem Bauernhof“ an.

Obwohl Anianes Einnahmen aus dem Tourismus inzwischen annähernd hoch wie die aus dem Weinbau sind, bleibt die öffentliche Strukturförderung bescheiden. Im Turm der zweitgrößten Kirche waltet Eric mit dem Office de Tourisme, von dem es in jeder Gemeinde eines gibt; und im sonst kahlen Kirchenschiff sind fünf Pingpong-Tische aufgebaut. Einige Kirchen der Gegend stehen leer - doch der geplante Umbau zu Kultur- und Freizeitzentren scheitert meist am Geld. Die bunten Prospekte und Veranstaltungskalender, die Eric im Kirchturmbüro ausliegen hat, haben zum Teil die regionale Wirtschaft finanziert, herausragend dabei - die Atomindustrie. „Dieser 'Führer durch den Sommer‘ wird Ihnen dank COGEMA präsentiert, dem wichtigsten Akteur unserer Region!“ 750 „glücklichen“ Arbeitern, so die COGEMA an die Urlauber, „verschafft sie Lohn und Brot in einem Uranbergwerk bei Lodeve, 15 km weiter“.

Trotz Tomaten, Pfirsichen, Uran und Tourismus will sich der Aufschwung noch nicht so recht einstellen. Eine gemeinsame Anzeige der lokalen Gewerbetreibenden läßt die bange Erwartung der Einwohner vor dem „Gemeinsamen Markt“ durchklingen: MIT UNS. 1992.

Johannes Brandstäter

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen