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Aufbruchsstimmung in der Geisterstadt

Bluefields Zeit der Finsternis ist vorbei: Vier Wochen, nachdem der Hurrikan „Joan“ Nicaraguas Atlantikküste verwüstet hat, ist das Stromnetz wiederhergestellt / Doch die Probleme sind immens, und das Rückgrat der Wirtschaft von Bluefields ist gebrochen /Es fehlt an Wellblech / „Alles geht zu langsam, zuviel Bürokratie“  ■  Aus Bluefields Ralf Leonhard

Menschentrauben, die sich auflösen und wieder neu bilden, überall Leute, die sich ausgelassen unterhalten, kreischende Kinder. Unter den Straßenlaternen herrscht ein aufgeregtes Treiben wie auf einem Jahrmarkt. Nach vier Wochen Finsternis ist in Bluefields an Nicaraguas Atlantikküste das Stromnetz soweit instandgesetzt worden, daß zumindest das Spital und die Hauptstraße mit fünf Laternen beleuchtet werden können. Das erste Einschalten der Straßenbeleuchtung nach dem Hurrikan vom 22. Oktober ist ein Ereignis. Demnächst soll es auch wieder Bier geben.

Nachts orientiert man sich an Unebenheiten der Straße oder an Mauerecken. Keine Kerze, keine Petroleumlampe weist den Weg. Bluefields ist eine Geisterstadt geworden, beraubt ihres karibischen Charmes. Beraubt ihrer Orientierungspunkte: die mährische Kirche - ein hölzerner Trümmerhaufen, die Baumriesen im Park - entwurzelt.

In manchen Straßen sind Schutt und Abfälle noch hüfthoch aufgeschichtet, herabhängende Hochspannungsdrähte und Telefonkabel unter dem Müll festgeklemmt. Bei Tag kann man durch die notdürftig geflickten Wände in die verwüsteten Wohnzimmer sehen, durch die Dächer in den trüben Himmel. In den ärmeren Vierteln ist von den meisten Hütten nur der Fußboden übriggeblieben. Nicht der erste Hahnenschrei reißt einen aus dem Schlaf, sondern der erste Hammerschlag. Fieberhaft nützen die Leute jede regenfreie Minute, um aus den Bretterhaufen wieder eine provisorische Bleibe zu basteln.

Janet Ranking im vorwiegend von schwarzen Creoles bewohnten Viertel Old Bank hat noch Glück gehabt: aus dem vorhandenen Material konnte sie gemeinsam mit ihrem Mann wieder ein Haus zusammenzimmern. Mit rund drei mal fünf Metern Fläche ist es zwar nicht halb so groß wie das alte, aber zumindest ein Dach über dem Kopf. Die Schwiegermutter, die alles verloren hat, ist jetzt auch eingezogen. „Ein Glück, daß die Betten und der Gasherd nicht beschädigt wurden“, meint Janet, während die drei Kinder in der feuchten Wiese herumtollen.

Am anderen Ende der Stadt, im Fatima-Viertel, stellt sich Juan Martinez Cordoba einer scheinbar unlösbaren Aufgabe: allein will er sein völlig zerlegtes Haus wieder aufbauen: „Ich bin nach dem Hurrikan mit meiner Tochter nach Managua geflogen, weil die sich die Wirbelsäule verletzt hat. Jetzt liegt sie in Gips bei Verwandten.“ Als er nach vierzehn Tagen nach Bluefields zurückkehrte, war sein kleiner Gemischtwarenladen völlig geplündert, das Wellblech, das Juan Martinez vor dem Sturm für einen Ausbau gekauft hatte, ist verschwunden. Jetzt zieht er die rostigen Nägel aus den morschen Brettern, klopft sie geduldig gerade und heftet dann Planke über Planke an die Pfeiler, die er bereits in den Boden gerammt hat.

Gerüchteküche

Juana Sanchez im Bezirk Santa Rosa hat nicht einmal genug Plastik, um ihre bescheidene Habe zuzudecken. Die kaputten Wellblechfetzen, die sie aufs Dach genagelt hat, können den Regen nicht abhalten. „Wir kriegen viel zu wenig zu essen“, klagt sie, die Kinder laufen halbnackt herum, und Wellblech sei überhaupt keines verteilt worden. Sie ist überzeugt, die Spenden gehen alle nach Kuba und an die Guerilla in El Salvador. Und über „Radio Impacto“ in Costa Rica, das der Contra als Propagandawaffe dient, hat man erfahren, daß der Erzbischof von Managua, Kardinal Obando y Bravo, persönlich von Haus zu Haus gehen wolle, um die ausländischen Hilfsgüter zu verteilen. Denn die Regierung sei zu korrupt.

„Es stimmt, daß wir an die Bevölkerung noch kein Wellblech verteilt haben“, gibt Harry Chavez vom Notstandskomitee zu.

Wenn von einem Artikel nur geringe Mengen vorhanden sind, wird abgewartet, bis genug zusammenkommt, damit nicht eine kleine Minderheit bevorzugt wird. Außerdem sind die ersten Wellblechlieferungen zur Ausbesserung des Krankenhauses und der Lagerhallen verwendet worden. Ein Teil ist nach Corn Island gegangen, wo sämtliche Häuser zerstört wurden. Im übrigen ist an Lebensmitteln, Decken, Zelten und Kleidung fast alles verteilt worden, was in den ersten drei Wochen eingetroffen ist. Das meiste kam aus Kuba über eine Luftbrücke in den ersten Tagen nach der Katastrophe.

„Die Waren werden jetzt im Diplomatenladen für Dollars verkauft“, weiß eine Frau zu berichten. Tatsächlich werden die Hilfsgüter im Dollarshop zwischengelagert, weil die Lagerhäuser noch kein Dach haben.

Das Katastrophenkomitee, in dem alle staatlichen Stellen und die Kirchen vertreten sind, nimmt die Lieferungen in Empfang, verscherbelt sie allerdings nicht gegen harte greenbacks, sondern leitet sie an die Nachbarschaftskomitees weiter.

Bei der abendlichen Sitzung des Komitees unter dem Vorsitz des Regierungsdelegierten, Comandante Lumberto Campbell, hagelt es Kritik und Selbstkritik. „Zu viel Bürokratie, alles geht viel zu langsam voran“, stöhnen die Versammelten. „Am Anfang hat es reichlich Schwierigkeiten gegeben“, bestätigt Sebastian Castillo, der Verwalter des privaten evangelischen Hilfswerks CEPAD, „aber seit sich die Nachbarschaftskomitees organisiert haben, funktioniert die Verteilung besser“.

Die CEPAD-Vertreter wandern durch einzelne Stadtteile, die Barrios, und versichern sich, daß die über ihre Organisation kanalisierten Güter auch tatsächlich an den Endverbraucher kommen.

Neben US-amerikanischen, kanadischen, norwegischen und niederländischen Kirchen, haben auch die bundesdeutschen evangelischen Hilfswerke „Brot für die Welt“ und die evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe (EZE) ihr Scherflein an CEPAD überwiesen. „World Vision“, ein erzkonservativer Kirchenverein aus den USA, der bescheidene 40 Tonnen Wellblech und Lebensmittel gespendet hat, schickte eigens zwei Vertreter nach Bluefields.

Volkszählung

Emerita Herrera und Socorro Martinez gehen im Barrio Fatima alle Häuser ab und schreiben die Namen der Bewohner auf. Morgen werden wieder Lebensmittel verteilt, erzählen die beiden freiwilligen Mitarbeiterinnen des Nachbarschaftskomitees, da müssen wir wissen, wieviele Leute derzeit im Bezirk leben. Manche lassen sich nämlich in zwei Bezirken registrieren oder im Wohnbezirk und im Refugium, das vielen noch als Bleibe dient.

Die Speiseölration soll auf einen halben Liter pro Person und vierzehn Tage verdoppelt werden, nachdem von „Diakonia“, dem Hilfswerk schwedischer Kirchen, eine Ladung eingetroffen ist. Seife, Trockenmilch, ein Kilo Reis pro Person und Dosenfleisch von den Mennoniten in Pennsylvania wird es geben.

In der San-Marcos-Schule nahe dem Stadtzentrum, herrscht Aufregung. „Wir bekommen nichts mehr zu essen“, jammert die 40jährige Marcelina Navarro, „wenn wir nichts ins San-Jose-Gymnasium übersiedeln. Dort wollen die 122 Obdachlosen aber nicht hin: Denn in San Jose herrscht eine fürchterliche Schweinerei. Wir haben hier alles saubergehalten. Außerdem regnet's dort rein und die Leute müssen im Stehen schlafen, wenn sie nicht naß werden wollen.“

Die meisten Familien, die hier in der San-Marcos-Schule auf Matratzen und Decken hausen, kommen aus dem Viertel Canal am Meer, das überhaupt nicht mehr aufgebaut werden soll. Neue Wohnfläche in den Außenbezirken wird erst vermessen.

Das Gymnasium hat die Katastrophe halbwegs heil überstanden. Die hölzerne Zwischenwand im Klassenzimmer steht zwar in einem Winkel in den Raum, der höchstens Avantgarde-Architekten erfreuen könnte, aber das Gemäuer ist intakt. Der Verwaltungstrakt und der Lagerraum sind abgedeckt worden, der Fahnenmast im Hof verneigt sich bis zum Boden, seit ihm das Vordach auf die Wirbelsäule geweht wurde. Noel Acosta, der Vertreter des Unterrichtsministeriums, beruhigt die aufgebrachte Menge: Das Sonderprogramm für die Massenunterkünfte ist eingestellt worden. Die Leute sollen sich in der Liste des Bezirks einschreiben, damit sie bei der Verteilung berücksichtigt werden.

Schulen

Die fünf am besten erhaltenen Schulen dienen noch als Unterkünfte für die Obdachlosen. Das Schuljahr wurde vier Wochen vor der geplanten Zeugnisverteilung beendet. Die meisten der 18 Schulen von Bluefields und weitere sieben in den umliegenden Dörfern sind arg mitgenommen. Von 151 Klassenzimmern haben 83 kein Dach mehr. In der Baptistenschule und bei der „Mutter des göttlichen Schäfers“ sind auch die Wände eingestürzt. Der 1.000-Hektoliter -Wassertank der Kolumbus-Schule sieht aus wie eine von der Faust zerquetschte Bierdose. Was von der Turnhalle stehengeblieben ist, muß niedergerissen werden. Die meisten Tafeln - grün bemalte Sperrholzplatten - wurden geplündert und längst in eine Wand integriert.

Noel Acosta hat sein Quartier in einem Lehrerzimmer aufgeschlagen, weil sein Haus auf einen windschiefen Rumpf reduziert wurde. Am meisten reut ihn, daß er sein Fotoalbum nicht retten konnte, das ihn an seine Studienzeit in Potsdam erinnert. Die Nachricht vom Spendenkonto im westlichen Berlin, läßt seine Augen aufleuchten: „Wenn wir einmal genug Wellblech für die Dächer haben, können wir am 20.Februar plangemäß mit dem Unterricht anfangen.“

Die kubanische Regierung hat versprochen, in den nächsten Monaten 1.000 Fertigteilhäuser in Bluefilds aufzustellen. Dort sollen Familien wohnen, die alles verloren haben. Harry Chavez vom Notstandskomitee weiß von vier verschiedenen Bautypen, die geliefert werden, „die dem Stil der Stadt angepaßt sein sollen“. Also Häuschen mit Veranda und reichlich natürlicher Durchlüftung. Die Kubaner haben sich auch bereits um die Seuchenvorsorge verdient gemacht. In den ersten Tagen impften und desinfizierten sie, was das Zeug hielt. Daß nur 27 Malariakranke und kein einziger Typhusfall gemeldet werden, muß auf die effiziente Vorbeugung zurückgeführt werden.

Schwester Cristina im halbwegs zusammengeflickten Krankenhaus bestätigt, daß der Betrieb normal ist.

Blockierte Hilfssendungen

Obwohl die Regierung, die Armee und hunderte Freiwillige bei der Evakuierung Gewaltiges geleistet haben und die Zahl der Todesopfer angesichts der Wucht des Sturmes verschwindend gering ist, wird die Revolution an der Atlantikküste kaum zusätzliche Sympathien gewinnen. Die Spenden, die nach einer Katastrophe ins Land kommen, sind erfahrungsgemäß nie ausreichend. Nach Bluefields fließen sie äußerst zögernd und die unzulänglichen Transportmittel verhindern den effizienten Gütertransport. So liegen seit Wochen 90.000 Tafeln Wellblech im costaricanischen Atlantikhafen Limon bereit. Diese wiegen fast 800 Tonnen.

Die kleinen Fischerboote, die ständig zwischen Limon und El Bluff, dem Hafen von Bluefileds, hin und hertuckern, brauchen für eine Strecke 24 Stunden und können nicht mehr als 30 Tonnen befördern. In El Rama, dem Flußhafen am Rio Escondido, warten Reisvorräte für zwei Monate auf die Abholung. Doch derzeit weiß man nicht einmal, inwieweit der Fluß noch schiffbar ist. Durch Sedimentablagerungen nach dem Hurrikan haben sich die Navigationsschneisen verschoben und sind teilweise nicht tief genug.

Während die mittleren Fischerboote größtenteils gerettet werden konnten, haben die meisten der kleinen Fischer alles verloren. Allein in Corn Island sind 50 Boote zerstört worden. Die Aufbereitungsanlagen für Fische, Krabben und Langusten werden monatelang nicht funktionieren. In Copesnica, am Nordende von Bluefields, sind die Angestellten damit beschäftigt, die Trümmer wegzuräumen. Die Kühlanlage ist vom Salzwasser zerfressen, das durch das zerstörte Dach eingedrungen ist. Der Generator ist mitsamt den Metallstreben, auf denen er stand, zu Boden gekracht. Vor nächstem Jahr wird hier nichts laufen, seufzt ein Arbeiter, der sich auf einem Haufen leerer Langustenkäfige niedergelassen hat. Der Export von Meeresfrüchten war das Rückgrat der Wirtschaft von Bluefields.

Waldtot

Noch bleibender aber ist die Holzwirtschaft betroffen. Nach ersten Schätzungen wurden in der Region 250.000 Hektar Wälder vernichtet, das sind 12,5 Millionen Kubikmeter Holz. Aus der Luft sieht der ehemalige Dschungel aus, als wäre er einer gigantischen Entlaubungsaktion zum Opfer gefallen. Was stehen geblieben ist, ist so kahl wie eine Eiche im europäischen Winter. Schwedische Experten meinen, daß die Aufforstung extrem schwierig sei, da auf der ganzen Welt niemand Erfahrung mit dieser Art von Wald habe.

Wovon die Einwohner Bluefields in den nächsten Monaten und Jahren leben werden, ist derzeit noch völlig unklar. Nur die Baubranche wird florieren. Mindestens sechs Monate müssen in Bluefields und Umgebung 72.000 Menschen durchgefüttert werden. „Wir haben hier kein Recht müde zu werden“, konstatiert Comandante Campbell bei der abendlichen Sitzung des Notstandskomitees, „es gibt zuviel zu tun.“ Er freut sich, daß die ersten fünf Straßenlaternen wieder leuchten, weil das einen Fortschritt signalisiert. Auch die Telefonverbindungen in der Stadt sind teilweise wiederhergestellt. Mit dem fernen Managua kann man nur per Funk Kontakt aufnehmen.

Campbell: „Wir müssen den Schwung erhalten. Nach dem anfänglichen Schock arbeiten die Leute wie verrückt. Aber dann kommt bald eine depressive Phase. Wir müssen mit unserem Vorbild verhindern, daß die Menschen resignieren.“

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