: Abschied von den Ideen des Jahres 1918
■ 70 Jahre danach: Zur Debatte steht nicht mehr die Ablösung der parlamentarischen Demokratie durch ein Rätesystem, sondern eine „basisdemokratische“ Reform / „Alle Macht den Räten“ bleibt Geschichte
Zwischen 1918, dem Jahr der Arbeiter- und Soldatenräte, und 1988 liegt eine historische Epoche mit so tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen, daß es sinnlos wäre, nach der Übertragbarkeit von Erfahrungen und Experimenten jener kurzen Phase der proletarischen Revolution in Deutschland zu forschen. Was nicht heißt, daß aus dieser Geschichte für heute nichts zu lernen sei. Lernen heißt hier vor allem, sich über die unauslöschbare DIFFERENZ zwischen damals und heute klar zu werden.
Das gilt erst recht für die Grünen, auch wenn viele Aktivisten der Gründerzeit sich als Erben sozialistischer Traditionen verstanden, zu deren utopisch-hoffnungsvollem Bestand gerade die IDEE (weniger die Praxis) der Räte gehörte. Es war die Idee der direkten Demokratie, der Selbstverwaltung in Permanenz. Gewisse Ausgrenzungen wurden nicht wahrgenommen, z.B. die derjenigen, die außerhalb der Warenproduktion standen. Sie paßten nicht ins Räte-System, vor allem natürlich nicht die Familienarbeiterinnen.
Das Rätemodell hatte sein Zentrum in den großen Fabriken. Es war so „industrialistisch“ wie der große Hauptstrom der sozialistischen Theorie und Praxis insgesamt. Die Arbeiterklasse galt v.a. deshalb als die historisch fortschrittlichste Klasse, weil sie die produktive Klasse darstellte und die „fortschrittlichen Produktivkräfte“ verkörperte. Heute würden wir aus ökologischer Sicht eher sagen: genau das war das Problem mit der Arbeiterklasse, ganz abgesehen davon, daß sie so
ziologisch kaum noch auszumachen und als „Klasse für sich“ von der politischen Bühne abgetreten ist. Faktisch bildete die Arbeiterbewegung den Gegenpol zum Kapital innerhalb des industriell-produktivistischen Systems. Die Gewerkschaften tun das im wesentlichen noch heute, wenn auch hier und dort Risse und Umbrüche im Selbstverständnis sichtbar sind. Der Sozialismus hat eben keine Utopie von „anders arbeiten, anders leben“ hervorgebracht. Vielmehr bildete sich zwischen Kapital und Arbeit eine geheime Allianz des „industriellen Fortschritts“ heraus, ökologischer Raubbau inclusive.
Die Kritik an luft-, boden- und wasserverpestenden Produktionsweisen, an lebensbedrohlichen Technologien, am Wahn des „grenzenlosen Wachstums“ kam eben nicht zufällig von Grup
pen außerhalb des „unmittelbaren Produktionsprozesses“.
Die GRÜNEN haben immer wieder versucht, die Ökologisierung des Industriesystems zu entwerfen. Sie haben sich von Bahro und der Forderung nach „Ausstieg aus dem Industriesystem“
getrennt und stattdessen ein „Umbauprogramm“ entwickelt, das soziale Frage und ökologische Interessen, Gewerkschaften und Umweltbewegung versöhnen soll. Ich bezweifle, daß diese Versöhnung gelungen ist. Ich beginne zu zweifeln, ob sie überhaupt möglich ist in einer Gesell
schaft, in der die individuelle Reproduktion fast aller ebenso wie das Funktionieren der sozialen Sicherungssysteme an den Fortgang der Kapitalakkumulation geknüpft ist. Was hängt nicht alles am Weitermachen: Arbeitsplätze, Einkommen, Karrieren, Komfort. Für Lohnabhängige, insbesondere für Arbeiter in den „alten Industrien“, ist dieser „stumme Zwang“ der Produktionsverhältnisse am brutalsten spürbar. Ein bloßer Wechsel der Eigentumsverhältnisse, die Selbstverwaltung der Betriebe durch die Beschäftigten, würde daran nichts ändern - solange es nicht gelingt, Arbeits- und Lebensmöglichkeiten aufzubauen, die nicht auf dem Ruin unserer Lebensgrundlagen beruhen. Mit der Bewahrung der Einkommens-und Konsumstandards auf dem heutigen Niveau ist eine solche Perspektive freilich nicht vereinbar, aller Umverteilungsrhethorik zum Trotz.
Wer aus dem Plädoyer für industrielle Abrüstung stets die Absage an eine menschenwürdige soziale Grundsicherung und anständige Mindestlöhne heraushört, ist selbst schuld.
In einem anderen Punkt scheinen die GRÜNEN eher an Traditionen des November 1918 anzuknüpfen: schließlich haben sie die „Basisdemokratie“ zu einer ihrer vier programmatischen Säulen erhoben. Aber der Schein trügt wie so oft. Durch ihre pure Existenz als politische Partei im parlamentarisch-repräsentativen System demonstrieren die GRÜNEN die Notwendigkeit der VERMITTLUNG zwischen Alltagshandeln und staatlicher Politik. Nicht nur die außerparlamen
tarischen Bewegungen haben sich als diskontinuierlich und konjunkturabhängig erwiesen. Auch das Modell der permanenten politischen Aktivität möglichst aller Menschen hat viel von seiner Plausibilität verloren. Offenkundig entspricht die rastlose Aktivität in Betriebsräten und Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, Komitees und Projekten durchaus nicht den Wünschen und Lebensrhythmen der großen Mehrheit - und es zeugt durchaus von Sektierertum, das vorrangig als Zeichen ihrer „Entpolitisierung“ zu interpretieren.
Es gibt ein anzuerkennendes Bedürfnis nach repräsentativer Vertretung der eigenen Interessen - möglichst effektiv, professionell und unterhaltsam. Es gibt zugleich ein wachsendes Bedürfnis nach Transparenz der politischen Institution und Apparate, nach Begrenzung und Dezentralisierung ihrer Macht. Es gibt drittens das Interesse, sich im Konfliktfall wirkungsvoller „von unten“ in politische Entscheidungen einmischen zu können: über demokratische Planungsverfahren und Einspruchsrechte, erweiterte Mitbestimmung, über Bürgerinitiativen und Volksentscheide. Und es wächst viertens das Interesse an autonomen Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Lebenswelt, statt sich rundum staatlich verwalten zu lassen.
Alle diese Tendenzen zusammengenommen ergeben eher eine „basisdemokratische“ Reform der parlamentarischen Demokratie als ihre Ablösung durch ein Rätesystem. „Alle Macht den Räten“ bleibt Geschichte.
Ralf Fücks
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