: „Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen“
Der von der Schule verwiesene 16jährige Philipp Lengsfeld und seine Mutter Vera Wollenberger äußern sich / „Die Schulverweise rückgängig machen!“ ■ I N T E R V I E W
Philipp Lengsfeld hatte einen Artikel gegen die Militärparade zum Nationalfeiertag der DDR mit unterschrieben und war zusammen mit einem Klassenkameraden beim traditionellen antifaschistischen Kampftag mit einem eigenen Transparent erschienen („Gegen faschistische Tendenzen“ und „Neonazis raus“). Seit knapp zwei Wochen besucht er seine Mutter, Vera Wollenberg, in England. Sie wurde nach dem 17.Januar abgeschoben - zu einem einjährigen „Studienaufenthalt“.
taz: Dir und deinen Mitschülern wird vorgeworfen, „antisozialistisch“ zu sein, gegen „sozialistische Gesetzlichkeiten“ verstoßen und eine „pazifistische Plattform organisiert“ zu haben. Welche Anschuldigungen waren für euch am schlimmsten?
Philipp Lengsfeld: Das Schlimme war, daß das Ganze, obwohl es so absurd war, durchgezogen worden ist. Daß wir als kriminelle Bande hingestellt wurden. Oder daß uns vorgeworfen wurde, anderen Schülern die Meinung aufzuzwingen. Für das, was wir gemacht haben, hätten wir keineswegs von der Schule fliegen dürfen. Der berühmte Satz, daß man hier mit Kanonen auf Spatzen schießt, trifft voll zu.
Wie wurde unter den Schülern die Einrichtung dieser Speakers Corner überhaupt aufgenommen?
Als ich im September an die Schule kam, hatte der ganze Trouble schon angefangen. Ich hab‘ die Speakers Corner nie in normaler Funktion erlebt. Die Artikel wurden aber angebracht, um auch auszuprobieren, ob das mit der freien Meinungsäußerung ernstgemeint ist. Von früher waren wir das ja nicht gewohnt.
Ihr seid verhört worden, euretwegen gab es große, fast tribunalartige Versammlungen an der Schule. Wie hast du das empfunden?
Von meiner Mutter wußte ich ja, daß der Staat zu solcher Repression fähig ist. Ich hab‘ das jetzt am eigenen Leib erfahren. Bei vielen anderen gab es Entsetzen über die Brutalität des Vorgehens. Bei der FDJ-Versammlung in der Schule kam ich mir ziemlich hilflos und alleingelassen vor. Neben den Schülern waren auch sechs Erwachsene dabei. Das war fast „einer gegen alle“. Nur ein Mädchen hat für mich gesprochen.
Durftet ihr euch bei den Versammlungen denn nicht äußern?
Doch, zumindest bei der FDJ-Versammlung. Aber irgendwie wurde einem das Wort im Munde umgedreht. Eine Methode war auch, daß von drei Seiten drei verschiedene Vorwürfe kamen, und dann konnte man sich dazu äußern. Da wußte man gar nicht, wo man anfangen und wo man aufhören sollte. Und dann wurde man schon wieder unterbrochen. Der Schuldirektor erwähnte immer wieder das Protokoll des Verhörs. Wenn ich dann fragte, ob er das nicht mal wörtlich vorlesen könne, dann sagte er, wir sind hier nicht zum Protokoll-Lesen da.
Welche Bedeutung haben die Ereignisse für dich und dein Leben?
Für meine berufliche Entwicklung ist der Rausschmiß ziemlich katastrophal. Ich bin mir nicht klar, wie es nun weitergehen wird oder kann. Auch wenn ich zur Zeit in England bin, will ich zurückkehren. Ich hoffe da sehr stark auf die Verhandlungen der Kirche. Vorerst werde ich in England am normalen Schulbetrieb teilnehmen.
Vera, wie siehst du als Mutter die Vorgänge an der Ossietzky-Schule.
Vera Wollenberger: Ich bin zwar nicht überrascht, wie das abgelaufen ist, aber doch betroffen, daß das Ende der achtziger Jahre immer noch so läuft wie eh und je. Daß Gespräche mit anderen Klassenkameraden geführt werden und ihnen nahegelegt wird, wie sie abzustimmen haben. Oder daß es entgegen dem FDJ-Statut keine Vorgespräche mit den betroffenen Jugendlichen gegeben hat. Dort heißt es nämlich, daß es einen Ausschluß aus der FDJ erst gibt, wenn alles andere nichts mehr nützt. Aber dieses „alles andere“ hat man nicht gemacht. Als Philipp darauf bestand, wurde ihm eine formalistische Auslegung des FDJ-Statuts vorgeworfen.
Die Jugendlichen haben das getan, was uns unsere Lehrer und Erzieher immer vermittelt haben, nämlich antifaschistisch und antimilitaristisch zu sein. Die Jugendlichen haben überhaupt nichts Strafbares gemacht, das ist das Wichtigste, was man feststellen muß. Die Schulverweise müssen rückgängig gemacht werden. Es geht ja nicht nur um diese vier Jugendlichen. Auch all diejenigen, die veranlaßt wurden, gegen ihre Mitschüler zu stimmen, sind ja genauso Opfer. Ein Kamerad zum Beispiel, der Philipp besuchen wollte, stand schon vor der Haustür und hat sich dann doch nicht hochgetraut. Er hat statt dessen einen Brief geschrieben. Darin steht, daß er sich so schämt, weil er gegen Philipp und die anderen gestimmt hat, und nicht weiß, wie er damit fertig werden soll. Dieser Junge ist sicher nicht der einzige.
Interview: Martha Sandrock
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