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Moskau taktiert mit baltischen Staaten

■ 'Prawda‘ warnt Litauer vor Konfrontationen / Oberster Sowjet mildert die kritisierten neuen Verfassungs-Paragraphen ab / Kein Veto-Recht Moskaus über Republik-Gesetze / Letten beraten als dritte baltische Republik über Souveränitätserklärung

Moskau (ap, afp, dpa) - Der oberste Sowjet Lettlands hat gestern in Riga über eine Änderung der Lettischen Verfassung , eine Souveränitätserklärung und die Wiedereinführung der traditionellen lettischen Nationalflagge und Hymne beraten. Außerdem war der Antrag gestellt worden, bestimmte in Moskau geplante Änderungen der UdSSR-Verfassung öffentlich als „unzulässig“ zu erklären. Die baltischen Staaten befürchten eine Einschränkung ihrer Autonomierechte. Estland hatte daher bereits Mitte letzter Woche eine Souveränitätserklärung verabschiedet. Das litauische Parlament vertagte diesen Schritt am Freitag vorläufig, führte aber die historischen litauischen Nationalsymbole wieder ein. Angesichts heftiger Proteste der litauischen Massenbewegung für die Perestroika „Sajudis“ gegen diese zeitliche Verschiebung hat die 'Prawda‘ am Dienstag vor Konfrontationen gewarnt. Der populäre Parteichef von Litauen, Algirdas Brasauskas, der die Entscheidung des Parlamentes bewirkt hatte, warnte laut 'Prawda‘ vor ultimativen Forderungen. Brasauskas, der bisher als Mann der „Sajudis“ galt, soll gesagt haben: „Wir verstehen, daß nicht alle Absichten der Sajudis erfüllt wurden. Es ist ein politischer Wettbewerb im Gange. Doch man muß verlieren können.“ In dem insgesamt auf Beschwichtigung angelegten Artikel konzidierte die 'Prawda‘, viele Litauer seien enttäuscht gewesen, als sie sahen, daß sich die von Moskau veröffentlichten Berichtigungen in der Verfassung „nur auf die Obere Etage bezogen“. In Litauen waren insgesamt 1,7 Millionen Unterschriften gegen das Gesetzesprojekt gesammelt worden.

Schon am Montag war ein Einlenken Moskaus bei den beanstandeten Paragraphen der neuen UdSSR-Verfassung in den Bereich des Möglichen gerückt. Wiederum in einem 'Prawda' -Bericht hieß es, ein Sonderausschuß aus beiden Kammern des Obersten Sowjet der UdSSR habe am Wochenende einen Kompromißvorschlag formuliert. Demzufolge soll der Oberste Sowjet der UdSSR künftig von den Republiksowjets erlassene Gesetze nicht, wie zunächst geplant, aufheben können. In diesem Zusammenhang wurde allerdings die Entscheidung des estnischen Parlaments, sich seinerseits ein Vetorecht gegen zentrale Gesetze vorzubehalten, als verfassungswidrig bezeichnet. Entscheidungen über die Gebietszusammensetzung der Sowjetunion solle das künftige Parlament nur noch treffen, wenn sie in die Zuständigkeit der Union fallen. Die Verfassungskommission, der die Rolle eines Verfassungsgerichts zugedacht ist, solle demnach paritätisch mit Vertretern aller 15 Unionsrepubliken besetzt werden. Bisher war die Zusammensetzung dieses Gremiums nicht näher definiert worden. Estland, Lettland und Litauen haben zusammen heute etwa 8 Millionen Einwohner.

Die jetzt wieder eingeführten Flaggen und Symbole kennzeichen die kurze Phase von 1918 bis 1940, in der die drei baltischen Staaten unabhängig waren. In zahlreichen Briefen an die zentrale Presse haben in den letzten Wochen auch russische Leser bemängelt, daß die Frist zur Diskussion des neuen UdSSR-Verfassungsprojekts nur wenig mehr als einen Monat betrug.

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