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Der ehrbare Täter, das verleumdete Opfer

Die italienische Autorin Dacia Maraini recherchierte den Mord an einer jungen Frau in Verona im Jahre 1906 / Die Reportage besticht mit ihrer unpathetischen Parteilichkeit für das „gesichtslose“ Opfer / Parallelen zu Vergewaltigungsprozessen bildete ein Motiv der Recherche  ■  Von Andrea Rössler

Sechs Stück Menschenfleisch mit einem Gewicht von 13,4 Kilo“ kamen zum Vorschein, wie die Zeitung 'L'Adige‘ meldete. Die Stücke wurden identifiziert als „rechte Hälfte des Brustkorbs samt vollständiger Brust in ein Stück scharlachrote Leinwand gewickelt. Die linke Hälfte des Brustkorbs samt Brust, ebenso eingewickelt. Die untere Bauchhälfte in grünen Stoff mit gleichfarbiger Betressung gewickelt. Der entfleischte Oberschenkel, eingewickelt in eine Damenunterhose mit Spitzenbesatz.“ Das sind „Tatsachen“, die uns die italienische Autorin Dacia Maraini in ihrem Buch Isolina. Die zerstückelte Frau auftischt, lakonisch und distanziert.

Das grausige Geschehen datiert auf den 16.Januar 1900. An diesem Tag finden in Verona zwei Wäscherinnen im Fluß Adige den zerstückelten Leichnam einer Frau, die später als Isolina Canuti identifiziert wird, neunzehnjährige Tochter eines mittellosen, verwitweten veronesischen Angestellten, die zum Zeitpunkt ihrer Ermordung im vierten Monat schwanger gewesen sein muß. Ganz Verona macht sich auf die Suche nach dem blutrünstigen Schlächter und dem nicht aufgetauchten Kopf der Toten. Doch als ein ehrbarer Oberleutnant der Garnisonsstadt zum Hauptverdächtigen avanciert, spaltet sich die schaulustige Gemeinde in zwei Parteien. Isolinas Tod wird zum Aufhänger für eine ideologische Auseinandersetzung zwischen erzkonservativen Militaristen und aufrührerischen Sozialisten, die alles daran setzen, daß es dem Gegner nicht gelingt, den Fall herunterzuspielen und ihren Kameraden vor Bestrafung zu bewahren. Dieser leugnet den Mord standhaft; zwar gibt er zu, mit dem späteren Opfer geschlafen zu haben, bestreitet jedoch, daß sie von ihm schwanger ist. Großzügige Geldgeschenke an Isolina legitimiert er mit seiner uneingeschränkten Barmherzigkeit, und sein Drängen auf einen Schwangerschaftsabbruch, das mehrere Personen vor Gericht bezeugen, wiegelt er ab und gibt sich den Nimbus des freundschaftlich aber letztendlich unbeteiligten Beraters. Nach wenigen Tagen Untersuchungshaft wird der Oberleutnant wieder freigelassen; Zeugen, die ihn und seine Kameraden belasten, werden abgewimmelt.

Die ganze Sache wäre für immer in Vergessenheit geraten und so wohl auch nicht ins Blickfeld von Dacia Maraini geraten, hätte es nicht schon damals die „linke Kampfpresse“ gegeben, die noch Monate nach dem Auffinden der Leiche Indizien und Argumente für die Täterschaft des Oberleutnants veröffentlicht und ihn gezielt provoziert bis die zu diesem Zeitpunkt schon oft so bemühte Ehre ihm ein weiteres Schweigen unmöglich macht. Trivulzio, der Oberleutnant, erhebt Klage gegen Todeschini, den Journalisten. So kommt es zum Prozeß, in dem der ganze Mordfall noch einmal aufgerollt wird.

Dacia Maraini hat diesen authentischen Fall mehr als achtzig Jahre nach dem Geschehen recherchiert. Ihre 1985 in Italien veröffentlichte Roman-Reportage erschien jetzt im Rotbuch-Verlag in der deutschen Übersetzung von Pieke Biermann. Von den Schwierigkeiten der Recherche wird im Buch berichtet: Verona 1983, Dacia Maraini bei der jetzigen Oberin des Konvents für gefährdete Waisenmädchen, das Isolina als Kind besuchte: „Ich erkläre ihr, wonach ich suche. Aber sie scheint von Isolina nie gehört zu haben, sagt, es sei wahrscheinlich ein Irrtum zu glauben, daß sie hier war. Jedenfalls die Register aus den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts sind nicht mehr auffindbar, vermutlich sind sie vernichtet worden. Ich beharre trotzdem. Sie sagt, sie wolle nachsehen und sich umhören. Aber in ihrem Gesicht kann ich lesen, daß sie es nicht tun wird, daß sie uns schnell wieder loswerden möchte, daß sie uns nicht über den Weg traut.“ Und von den wenigen noch lebenden Verwandten der Isolina ist nur einer zu einem Gespräch mit der Autorin bereit: „Ja. Ich weiß wohl, daß es Isolina mal gegeben hat, aber geredet wurde nie über sie in der Familie. Meine Mutter hat immer gesagt: Wenn man dich nach ihr fragt, dann sag‘, die kennst du nicht.“ Einen sprechenderen Beleg für das Schweigen und die Verdrängung hätte Dacia Maraini kaum finden können: „Es scheint, als habe die Stadt all ihre Energien aufgeboten, um jede Spur ihrer unglücklichen Tochter auszulöschen.“

Dem steuert die Autorin entgegen. Dacia Maraini macht sich mühsam ein Bild von der gesichtslosen jungen Frau: Von der einen Seite wird sie zur ärmlichen Prostituierten gestempelt, deren Tod nicht gesühnt werden muß - und schon gar nicht von einem ehrbaren Offizier aus reichem Hause. Die andere Seite macht sie zum identitätslosen Opfer einer militaristischen Gesellschaft, gegen die Kommunisten und Anarchisten zwar Sturm liefen, jedoch ohne ein neues Frauenbild im Gepäck zu haben.

Freilich ist Isolina auch für die Maraini ein Opfer der Selbstgefälligkeit und -herrlichkeit des Militärs und seiner hierarchischen Struktur und perfekt funktionierenden Loyalität (sehr bald kristallisiert sich heraus, daß wahrscheinlich mehrere Soldaten an dem Verbrechen beteiligt waren). Dabei verliert sie jedoch nicht die Person Isolina aus dem Blick, die selbstbestimmt leben wollte, was in ihrem Fall einfach hieß, sich (mit Männern) zu amüsieren, auch außerhalb der moralischen Normen der damaligen Gesellschaft. Isolina gab sich nicht zufrieden mit der Rolle der armen, braven Halbwaise, die sich aufopfernd um ihre kleinen Geschwister kümmert, während der Vater zur Arbeit ist: sie rebelliert, unbewußt zwar, aber vehement; sie will genauso ihren Spaß haben wie die Offiziere, denen sie sich hingibt dies allerdings keineswegs reihenweise, wie die Verteidiger des Oberleutnants suggerieren.

Das verleumderische Argument findet indes auch bei der weiblichen Bevölkerung Veronas Anklang. Es nimmt nicht wunder, daß gerade Frauen gegen Isolina hetzen, denn diese gesteht sich ein Stück Freiheit zu, nach dem so manche selbst nicht zu greifen wagt - wer noch einmal Isolinas zerstückelten Körper vor Augen sieht, wird wissen warum... Isolina muß letztendlich deshalb sterben, weil sie das Kind gegen den Willen ihres Geliebten auszutragen gedenkt. Dies provoziert den versuchten Schwangerschaftsabbruch durch Trivulzio und seine Komplizen, die meinen, die Angelegenheit ließe sich mit einer Gabel aus der Welt schaffen.

Muß noch erwähnt werden, zu wessen Gunsten der Prozeß ausgegangen ist? Die halsbrecherische Rhetorik und Verdrehung der „Tatsachen“, die das Gericht zur Ehrenrettung des Beschuldigten an den Tag legt, wäre eine erheiternde Lektüre, bedeckte sie nicht den grausam zerstückelten Leib einer jungen Frau mit einem schmutzigen Leinentuch, und erinnerten manche Vorurteile nicht an noch heute gängige Richterpraxis etwa bei Vergewaltigungsprozessen.

Dacia Maraini berichtet uns von diesem Geschehen mit einer Sachlichkeit, die nicht unparteiisch ist, aber frei von Aggressivität und ideologischer Verbrämung. Die Autorin protokolliert ein unglaublich grausames Verbrechen mit einer beeindruckenden Distanziertheit, eine bewußt eingesetzte Diskrepanz von Form und Inhalt, die die Leser in ihren Bann zieht. Nur selten tritt die Erzählerin Dacia Maraini in Erscheinung, zum Beispiel dann, wenn sie das Kind Isolina imaginiert; dann ist ein sanfter, fast lyrischer Unterton da, den auch Pieke Biermann in ihrer klaren, stilsicheren Übersetzung immer genau trifft.

Daß eine italienische Autorin Mitte der achtziger Jahre gerade diesen Stoff bearbeitet, ist kein Zufall. Auf der Buchmesse in Frankfurt erzählt Dacia Maraini von einer beängstigenden Zunahme von Vergewaltigungen in ihrem Heimatland, von dem Zerbröckeln des modernen Frauenbildes, das der Frau eine selbstbestimmte Identität und einen eigenen Willen zugestand.

Mag das Veroner Gerichtsurteil nun berechtigt sein oder nicht, „Tatsache“ bleibt, daß es auch heute noch einiger Anstrengung bedarf, bis die ganze (Geschichte einer) Frau in den Blickpunkt rückt. Isolina indes mußte mehr als achtzig Jahre darauf waren, wieder zusammengesetzt zu werden.

Dacia Maraini: Isolina. Die zerstückelte Frau. Rotbuch -Verlag (Berlin) 1988. 192 Seiten gebunden, DM 29.-.

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