Bruchstellen der Geschichte

■ Otto F.Walters Roman „Zeit des Fasans“

Wie William Faulkner, eines seiner großen Vorbilder, hat sich Otto F.Walter ein imaginäres Territorium geschaffen die Stadt Jammers und ihre Umgebung, die in fast allen seinen Romanen Ort der Handlung sind. Am Rande dieser fiktiven Stadt im Kanton Solothurn, in der Villa der Famile Winter, vollzieht sich das Geschehen in Walters neuem Roman Zeit des Fasans.

Der in Berlin lebende Historiker Thomas Winter, Sprößling einer Schweizer Industriellenfamilie, stößt bei einem Besuch im Elternhaus auf alte Dokumente der Firmengeschichte und Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen aus der Familie, darunter eine Eintragung aus dem nie fortgeführten Tagebuch der Tante Esther, in der es heißt, daß seine Mutter, Lilly Winter, nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern ermordet worden sei.

Während Winter noch seine Notizen und Bemerkungen zur „Politik des Generals“ sammelt, einer minuziösen Auseinandersetzung mit der Schweizer Innen- und Außenpolitik während des Nationalsozialismus, insbesondere der eigenmächtigen und ultrarechten, fast putschistischen Politik des Generals Guisan, verstrickt er sich immer tiefer in die Suche nach dem Mörder seiner Mutter. Er führt Gespräche mit der alten Tante Esther, einer bizarren Figur, die einerseits die stockreaktonären Werte des Schweizer Bürgertums vertritt, andererseits aber wie der Geist der Erzählung durch die Geschichte wandert, unbarmherzig und in eindringlichen Bildern Politik und Familiengeschichte verbindet, die Zeiten vermischt, Thomas auf die Schrecken der Vergangenheit stößt, ihn am entscheidenden Punkt aber allein läßt. So muß er, wie ein neuer Ödipus oder wie Orest, am Ende erkennen, daß er selbst der Gesuchte ist.

Otto F.Walter verbindet in einer von ihm schon in früheren Romanen praktizierten Montagetechnik disparate Erzählstränge, setzt die Notizen des Historikers neben bruchstückhafte Traumbilder aus der Vergangenheit, Erinnerungen der Hausangestellten und die Gespräche Winters mit Tante Esther und seinem Freund, dem Anarchisten Andre Rupp, neben den Briefwechsel Thomas Winters mit seiner Geliebten und Episoden aus seiner Recherche in der heruntergekommenen Villa seiner Eltern.

Zwei Verbrechen, könnte man sagen, werden im Roman ineinanderverschlungen dargestellt: der Muttermord, dem der nicht ganz geklärte Tod des Vaters vorausging und das Verbrechen des Schweizer Bürgertums exemplarisch verdeutlicht anhand der Firmengeschichte der Winter-Werke und dem Verwobensein der Familie in die verschwiegene Kooperation der Schweiz mit dem Hitlerfaschismus.

Schließlich wird beidem auf verschiedenen Ebenen das zentrale Paradigma der Vorgeschichte unterlegt: der blutige Wechsel vom Matriarchat zum Patriarchat. Dieser Wechsel wird zum einen in einer bruchstückhaft eingestreuten mythologischen Erzählung thematisch, dann aber auch in den Gesprächen zwischen Thomas Winter und Andre, der die potentielle Selbstvernichtung der menschlichen Gattung als kollektiven Muttermord, Mord an allem Leben, beschreibt, als zwanghaftes Ziel des patriarchalischen Systems. Aber auch die Geschichte von Lilly Winter, hinter der die von Klytämnestra und Orest aufleuchtet, ist auf diesem Hintergrund zu verstehen: die Industriellengattin ist die einzige aus dem Clan, die dem Faschismus nicht huldigen will; sie versucht, in einem schließlich erbarmungslosen Kampf mit ihrem eigenen Mann, eigenmächtig (Firmen-)Politik zu machen und richtet brutal den eigenen Sohn zum Mitstreiter gegen den Vater ab. Schließlich wird ihr der Tod ihres Mannes von einigen aus der Familie angelastet. Thomas Winter aber, der ideologisch sozusagen auf der Seite seiner Mutter steht, wird dennoch zu ihrem Mörder, weil sie ihn in ihrem Kampf um die Macht fast zerstört hätte.

Was andere Kritiker moniert haben, erscheint mir gerade als Stärke des umfangreichen Romans: das Walter Sozial- und Militärgeschichte, Faschismustheorie und Mythologie verbindet mit der Recherche des Thomas Winter, daß er den Erzählfluß immer wieder unterbricht, den Vorgang der Suche, die Qual des Erinnerns und die vielen Aspekte und Gesichter der Wahrheit sichtbar macht und eben keine Lesehaltung zuläßt, die sich an einem „spannenden“ Roman und der „Kraft der Imagination“ berauschen will, auch wenn das Buch beides bietet. Keineswegs intendiert Walter typische Totalität, keineswegs bringt er gut gemeinte Sozialkritik, sondern ihn interessieren die Bruchstellen privater und öffentlicher Geschichte, die Art, wie das, was als Krieg und Tod, Machtpolitik und Verrat die Politik motiviert und prägt, durch die Subjekte hindurcharbeitet, sie zerreißt, sie treibt, auch wenn sie es nicht wissen, und es immer noch tut, wenn sie es wissen.

Um diese Bruchstellen zu zeigen, arbeitet Walter mit den verschiedensten Materialien, von denen keines das andere dominiert. Zeitgenossenschafft - und um die geht es Otto F.Walter -, ein Begriff davon, welche Gewalt in der Geschichte wirkt, läßt sich mit einer Sprache allein eben nicht gewinnen.

Martin Hielscher

Otto F. Walter: Zeit des Fasans.

Roman. Rowohlt Verlag, 616 Seiten, 42 DM