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Schabbath in Ost-Berlin

■ Ein Bericht gegen das westliche Vorurteil vom Untergang des Judentums in der DDR

Freitag abend - Kabbalath - Schabbath. Der erste Stern steht am Himmel. Um fünf nach sechs stehe ich vor dem Eingang der Ost-Berliner Synagoge. Der Gottesdienst im „Friedenstempel“ in der Rykestraße hat bereits angefangen. Nicht im großen Saal, wo Hunderte von Menschen hineinpassen, sondern in einem Betraum nebenan. Der Raum ist - was mich erstaunt proppenvoll.

Ich dachte, daß das Judentum in der DDR vom Aussterben begriffen sei. Schließlich sind von den 180 Mitgliedern der Ost-Berliner Jüdischen Gemeinde die meisten über 60 Jahre alt. Ich hatte gehört, daß nur wenige am Schabbath in die Synagoge gehen würden. Man hat mir erzählt, daß die Ost -Berliner Gemeinde ebenso wie viele der kleineren jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik Schwierigkeiten hat, einen Minjan, das sind die für einen Gottesdienst erforderlichen zehn jüdischen Männer, aufzubringen. (Im Westen bekommt daher manch ein jüdischer Gottesdienstgänger ein kleines Taschengeld von seiner Gemeinde.)

Hier in der Rykestraße sind jedoch mindestens zwei Minjanin, also über 20 Männer, und noch einmal soviele Frauen versammelt. Die meisten Männer scheinen nicht älter als 40 Jahre alt zu sein. Viele haben einen Talith, ein Gebetstuch, über die Schultern gelegt. Alle haben eine Sidur, ein hebräisches Gebets-buch, in der Hand.

Unterschiede zum Westen

Nicht nur die Menge der Anwesenden unterscheidet die Synagoge in der Rykestraße von den Synagogen im Westen. Dort quatschen die Frauen ungerührt durch alle Gebete hindurch, die Kinder quengeln, und unter den Männern ist die Stimme des Kantors ebenfalls nur eine von vielen. Hier dagegen wird derart konzentriert gebetet, daß ich kaum glauben mag, daß die Leute in diesem Raum auch wirklich Juden sind. Alle folgen den hebräischen Worte in ihrem Sidur und scheinen im Gegensatz zu den Juden im Westen - genau zu wissen, worum es geht.

Am Ende wünscht sich jeder „Gut Schabbes“. In diesem Augenblick läuft mir aufgeregt ein Mann entgegen, dessen dicker, goldener Siegelring am Finger mit einem David-Stern aus Platin mir schon während des Gottesdienstes aufgefallen war. „Bist du jüdisch? Dann kommst du gerade richtig“, sagt er. „Nachher findet ein Treffen von jungen Leuten im Gemeindehaus statt.“

Der Mann heißt Heinz Rotholz und ist für die Jugendarbeit der Jüdischen Gemeinde zuständig. Seinem eleganten Anzug nach zu urteilen, kann er nicht arm sein. Wie er mir anschließend erzählt, besitzt er zwei Geschäfte, eins für Spielzeug und eins für Kristall; ein erfolgreicher Kleinkapitalist im Sozialismus. Gott verzeih mir meine Klischees! Rotholz ist für mich der Beweis, daß die Juden alle Systeme überdauern werden - selbst die kommunistische DDR. Wenig später sitze ich in seinem Wartburg und fahre zur Jüdischen Gemeinde in die Oranienburger Straße. Am Steuer sitzt Rotholz‘ Chauffeur.

In der Gemeindeküche bereiten einige der Frauen, die auch beim Gottesdienst waren, ein Schabbath-Essen vor. Rotholz hat Challah, das am Schabbath übliche Zopfbrot, und bulgarischen Rotwein organisiert. Auf einem der Tische stehen zwei Schabbath-Leuchter.

Der Kantor, Oljean Ingster, der auch mitgekommen ist, spricht die Bracha, den Segen, über den Wein und die Challah. Die brennenden Kerzen muß nach den Gesetzen des Judentums eine Frau segnen. Rotholz sieht mich an: „Zünde mal die Kerzen an und sag‘ die Bracha.“ Etwas überrumpelt frage ich: „Kann das nicht eine andere Frau machen?“ „Nein, du bist hier das einzige jüdische Mädchen.“ Wie bitte? Verdutzt frage ich: „Und die ganzen Frauen, die vorhin in der Synagoge waren?“ Rotholz winkt ab: „Das waren fast alles Christinnen.“ Philosemitismus hüben wie drüben. Jetzt verstehe ich auch die protestantisch-disziplinierte Atmosphäre beim Gottesdienst. Rotholz fügt hinzu: „Die richtigen Juden kommen nachher zum Treffen.“

Schaujuden für die Westpresse

Die „richtigen“ Juden - das sind etwa 50 Leute, die sich im Gemeindesaal einfinden. Viele von ihnen sind - wie die überwältigende Mehrheit der etwa 2.000 Ost-Berliner Juden keine Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Sie sind Kinder von deutsch-kommunistischen Eltern, die sich nach 1948 bewußt für ein Leben in der DDR entschieden hatten. Sie haben merkwürdig unjüdische Vornamen wie Erika, Wolfgang oder Andreas und arbeiten vornehmlich als Wissenschaftler, Ärzte und Journalisten. Das Judentum spielt in ihrer Erziehung kaum eine Rolle.

Seit drei Jahren treffen sich diese Leute in der auf Initiative von der jüdischen Sozialistin Irene Runge gebildeten Gruppe „Wir für uns“. Irene Runge selber ist eine loyale Staatsbürgerin der DDR. Gleichzeitig aber ist sie schon seit langer Zeit Mitglied der Gemeinde.

Auf die etwa hundert Leute in der sich auf das Judentum besinnenden Gruppe haben sich eine Zeitlang sämtliche Westmedien gestürzt. Bei dem Gemeindetreffen sitzt neben mir der Ost-Berliner Fotograf Andreas Sandberg. Als ich ihn frage, ob er Lust zu einem Interview hat, wimmelt er ab: „Nichts gegen Westmedien. Aber ich war jetzt schon im WDR, in der 'Zeit‘ und in Radio Bremen. Ich habe einfach keine Lust, andauernd Schaujude zu sein.“

Einige der Leute möchten demnächst einen Hebräisch-Kurs machen. In die Gmeinde eintreten wollen jedoch nur wenige. Die meisten betrachten sie als eine rein religiöse Institution, in der sie als Ungläubige fehl am Platze seien . Daß es so eine Gruppe gibt, zeigt jedoch, daß selbst kommunistisch-atheistische Juden nicht aufgehört haben, sich als Juden zu fühlen.

Beschneidung

Dieses Gefühl stellt sich mitunter biblischer dar, als es den Betroffenen bewußt ist. „So sehr ich mich als Jude verstehe, sagt mir Jürgen Finkelstein (Name auf Wunsch geändert), „ich kann es einfach nicht über mich bringen, jetz als über 40jähriger Brit Milah zu machen.“ Er redet von der Beschneidung, die offenbar doch keine unwesentliche Äußerlichkeit für einen zwanglosen Umgang mit dem eigenen Judentum ist. Seit Abrahams Zeiten manifestiert sich der Bund, den Gott - laut Torah - mit dem jüdischen Volk geschlossen hat, in der Beschneidung, dem Brit Milah.

In der DDR haben jedoch viel jüdische Eltern ihre Söhne nicht beschneiden lassen - mit dem Erfolg, daß deren Gedanken unverhältnismäßig oft um die zwei Zentimeter Vorhaut kreisen. Jürgens Schwester Monika (Name auf Wunsch geändert) will ihren Kindern solche Identitätsbrüche von vornherein ersparen. Deshalb hat sie ihren kürzlich geborenen Sohn nicht nur sofort beschneiden lassen, sondern ihm auch den jüdischen Namen Benjamin gegeben. Der Schriftsteller Wolfgang Herzberg, der im Augenblick an einem Buch über Juden arbeitet, die die Hitler-Zeit überlebt haben, sieht das ganz anders. Er fordert eine Öffnung der Gemeinden für die nicht-religiösen Juden. Dazu gehört vor allem das Verzichten auf die Beschneidung.

Betende Marxistin

Beim Gemeindetreffen ist auch Kostja Münz anwesend. Er versteht sich als „Lernender und Begreifender im Anfangsstadium“. Der Weg zum Judentum führt seiner Meinung nach nur über das Wissen um die kulturellen und philosophischen Werte der Religion. Früher machte Kostja FDJ -Schulungen. Aber inzwischen ist er aus der SED ausgeschlossen worden und in die jüdische Gemeinde eingetreten. Kostja kokettiert mit jüdischem Aussehen, mit seinem roten orthodoxen Bart, und erzählt mit Genuß jüdische Witze.

An einem Samstag morgen sehe ich ihn in der Synagoge wieder. Zufällig sitzt dort neben mir Irene Runge, die als jüdische Sozialistin das Gegenstück zu Kostja, dem sozialistischen Juden, ist. Kostja wird zur Torah aufgerufen. Ich flüstere Irene zu: „Findest du nicht auch Kostjas Aussehen in dieser Rolle sehr überzeugend?“ Irene fährt mich an: „Das ist eine rassistische Äußerung!“ Ich entgegne: „Wenn du so streng bist, kann man ja gar keine Äußerung über die Juden machen.“ „Kann man auch nicht.“ Irene wendet sich von mir ab und liest in ihrem Sidur. Nach einigen Augenblicken frage ich die betende Marxistin: „Bist du eigentlich religiös?“ Irene reagiert kühl: „So eine Frage beantworte ich nicht.“

Der Kantor: Ein Garant für das Judentum

Heinz Rotholz will während des Gemeindetreffens die Leute mit jüdischen Traditionen vertraut machen. Dazu hat er den Kantor Oljean Ingster eingeladen. Ingster hat das KZ überlebt und ist seit über 20 Jahren Kantor der Gemeinde. Männer wie dieser Kantor sind die Garanten des Judentums. Mit unerschütterlicher Beharrlichkeit praktiziert er in all der Zeit, Woche um Woche, die Gebote der Torah.

Rotholz will ihn als Gelehrten preisen. „Mit vier beherrschte er die hebräische Sprache. Mit fünf begann er mit dem Torah-Studium.“ Ingster reagiert ungehalten: „Das ist doch uninteressant. Das war damals so üblich. Reden wir lieber über etwas, was auch diese Leute angeht.“ Und dann erzählt er mit Schalk in den Augen, wie ihn der israelische Oberrabbiner empfing und völlig ungläubig fragte: „Sind Sie wirklich aus der DDR?“ - „Ja.“ - „Dort gibt's noch Juden?“ „Ja.“ - „Gibt es am Schabbath Gottesdienst?“ - „Ja!“ - „Und gibt es koscheres Fleisch?“ - „Ja!!“ Die Zuhörer lachen. Dann fängt Ingster an, einige Gebräuche am Schabbath zu erklären. „Während der ganzen Woche wurde hart gearbeitet, aber am Schabbath soll jeder wie ein König leben. Deshalb trinkt man süßen Wein und ißt zwei Hauptmahlzeiten: Fisch und Fleisch.“

Daß am Schabbath alle gleich gut leben sollen, mit diesem sozialen Aspekt liegt Ingster bei seinem überwiegend sozialistischen Publikum genau richtig.

Die Leute hängen an seinen Lippen. Zu dem Gemeinde-Treffen ist eine Bekannte von ihm, eine israelische Hochschullehrerin für jüdische Philosophie, gekommen, die sich gerade in Ost-Berlin aufhält. Sie erklärt den jungen Leuten: „Das Wesen des Judentums ist die immer neue Deutung des Torah. Nichts ist starr. Es gibt keine Dogmen.“

Eine Frau unter den Gästen zieht eine Gitarre hervor. Sie hat einen Zettel, auf dem in lateinischen Buchstaben der phonetische Text des Schabbath-Liedes „Schalom Alejchem“ steht. Kantor Ingster hatte zuvor die einfache tragende Melodie vorgesungen. Bei fast allen Juden in der Welt ruft sie verklärte Kindheitserinnerungen wach. Die meisten in diesem Ost-Berliner Gemeinderaum singen das Lied jedoch zum ersten Mal. Dazu gehört die Bracha „sche'hechajanu, u'kijmanu, we'higijanu la'sman haseh“, was ungefähr heißt, daß man Gott dafür segnet, daß er das jüdische Volk durch die Jahrtausende hindurch diesen Augenblick hat erreichen lassen.

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