Palermo - „Das Chile Europas“

Eine Allianz aus Sozialisten, Gewerkschaftern, Teilen der christdemokratischen Partei und Mafiosi will Anti-Mafia-Koalition um den christdemokratischen Bürgermeister von Palermo stürzen / Öffentliches Leben der sizilianischen Hauptstadt lahmgelegt  ■  Aus Palermo Werner Raith

Der „Leichenzug“ bewegt sich durch die Via Roma und die Via Maqueda, teilt sich, strömt den Corso Vittorio Emanuele und die kleinen Nebengassen zum Palazzo delle Aquile, dem Sitz des Bürgermeisters. Voran zwei Särge, einer mit dem Namen „Orlando“ - für den Ersten Bürgermeister, einer für seinen Vize Aldo Rizzo: Zehntausende auf den Straßen Palermos, zwei Wochen Generalstreik aller öffentlichen Einrichtungen, vom Einwohnermeldeamt bis zu den Staatspolizisten. Vergangenen Montag wurden Beamte durch den zuständigen Regierungspräsidenten zwangsverpflichtet, doch nun verhindern Straßenblockaden in der Hauptstadt Siziliens jede Normalisierung des Zustandes. Ein Gewerkschaftssekretär der katholisch-christdemokratisch dominierten CISL springt auf den Brunnen gegenüber dem Bürgermeisterpalais und schreit: „Wenn man nur als Mafioso auf der Seite der Arbeiter sein kann, dann soll sie hochleben, die Mafia.“

In Palermo hat eine Art Endkampf begonnen: In einer bisher unvorstellbaren konzertierten Aktion suchen Sozialisten, mafiose Überreste der von Parteichef De Mita und Bürgermeister Leoluca Orlando notdürftig „gesäuberten“ christdemokratischen Partei sowie Arbeiter mafioser Firmen und Killertrupps die Fünf-Gruppen-Koalition zu stürzen.

„Wir leben hier in einer Art Vor-Chile-Zustand“, sagt der Jesuitenpater und Soziologe Ennio Pintacuda, der zusammen mit Padre Bartolomeo Sorge, dem Leiter des politischen Bildungszentrums „Pedro Arrupe“ und der Bürgerinitiative „Una citta per l'uomo“ die Rathausbilanz unterstützt: „Wie in Chile zur Zeit Allendes versuchen die hier das öffentliche Leben total lahmzulegen, Terror zu säen, um die erste dezidiert antimafiose Stadtregierung in die Knie zu zwingen.“

Die seltsame Koalition zum Sturz des Christdemokraten Orlando, seines linksunabhängigen Vize Rizzo und der Grünen Stadträtin und Dezernentin „für die Lebensqualität Palermos“, Letizia Battaglia, hat ganz verschiedene Ursachen: die Sozialisten, die vor der Wahl 1987 den Sturz Orlandos versprochen hatten (obwohl sie da noch in der Koalition mit ihm saßen) und daher danach konsequent aus dem Bündnis hinausflogen, stehen bei ihrem mächtigsten Wahlhelfer im Wort - den Mafiaclans, die in Sizilien über mehr als 150.000 Stimmen verfügen und einen Großteil davon den Sozialisten zugeschoben hatten. Alt-Christdemokraten um den einstigen Bürgermeister Salvo Lima (der durch sein Mandat als Europaabgeordneter vor Strafverfolgung geschützt wird) und seinen unter Anklage stehenden Nachfolger Vito Ciancimino suchen vor allem einen „Klimaaufschwung“ herbeizuführen, der die Prozesse wegen mafioser Verfilzung zahlreicher DC-Politiker einem günstigen Ausgang zuführt. Sie haben auch ihre römische Lobby aktiviert: so sucht der Vizepräsident der Antimafia-Kommission, Claudio Vitalone, neuerdings die schon beschlossene Veröffentlichung der gut 160 Dossiers über mafiose Politiker zu verhindern - Vitalone gehört selbst zu den umstrittendsten Politikern im Land und ist ein Mann von Außenminister Andreotti, der selbst schon oft genug seine Finger in undurchsichtig-mafiosen Händeln hatte.

Daß Gewerkschafter sich gegen Orlando aussprechen, hat den Hintergrund, daß Sozialisten und römische DC-Drahtzieher die ihnen nahestehenden Gruppen in den Arbeiterverbänden mobilisieren: Nachdem es PSI-Craxi trotz einer monatelangen Kampagne nicht geglückt war, Orlando auszuhebeln, soll nun die Paralysierung des öffentlichen Lebens dafür sorgen. Andererseits haben mafiose Gruppen zu Hunderten ihre Leute in die Organisation eingeschleust und dominieren inzwischen manchen Ortsverband. Lediglich die kommunistisch beherrschte CGIL steht zur Koalition. So wird Orlando wohl in den nächsten Wochen seine Koalition denn auch um den PCI erweitern, um eine breitere Mehrheit für seinen Kurs zu erhalten.

Ob das allerdings die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Palermo beenden wird, steht in Frage: Nahezu ungehindert ziehen mafiose Killertrupps durch die sizilianische Hauptstadt - seit Jahresbeginn gab es bereits an die 200 Morde in und um Palermo, auf der gesamten Insel reichen sie schon an die 400 heran; man spricht in Parlermo bereits von „Todesschwadronen“. Die mafiose Fraktion der Gewerkschafter will weiterhin streiken und Straßenbarrikaden aufrichten. Wie richtig die Einschätzung des Paters von der „Chilenisierung“ Palermos ist, zeigt die Tatsache, daß der einzige Streikgrund der Gewerkschafter gegen die Administration Orlando die „sofortige Auszahlung der uns zustehenden Lohnerhöhungen“ ist - die aber hatte gerade Orlando blockiert.