: Gewissensnot und Amtsgeheimnis
Hans-Joachim Ehrig, Vorsitzender der Vereinigung Berliner Strafverteidiger, zur Abwägung zwischen Geheimhaltung und Grundrechtsverstoß ■ I N T E R V I E W
taz: Die ÖTV hat einem Verfassungsschutzmitarbeiter Rechtsschutz gewährt, dem vorgeworfen wird, er habe Geheimes ausgeplaudert. Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes ist an die Geheimhaltungspflicht gebunden. Was kann denn jemand machen, wenn er Mißstände entdeckt?
Ehrig: Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung steht selbstverständlich auch den Mitarbeitern des Landesamts für Verfassungsschutz zu. Diese haben daher auch das Recht, Mißstände, insbesondere Gesetzes- und Verfassungsverstöße von Behörden mit dem Ziel ihrer Abstellung zu rügen.
An wen kann er sich da wenden?
Bringt diese Rüge die Offenbarung von Geheimnissen mit sich, so darf er sich in jedem Fall an seine Vorgesetzten bis hin zum Senator und an das Abgeordnetenhaus oder einzelne Mitglieder des Abgeordnetenhauses wenden. Unmittelbar an die Öffentlichkeit darf er sich wenden, wenn es sich um schwere Verfassungsverstöße handelt. Wer in seiner Gewissensnot bei der Abwägung zwischen Amtsgeheimnis und Grundrechtsverstoß zu dem Ergebnis kommt, daß er nicht länger schweigen darf, kann sich auch auf übergesetzliche Rechtfertigungsgründe berufen. In Zweifelsfällen darf sich der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in jedem Fall ratsuchend an einen Rechtsanwalt wenden, ohne daß dies als Verrat von Amtsgeheimnissen gewertet werden dürfte.
Was sind denn zum Beispiel solche Verstöße?
Schwere Grundrechtsverstöße sind sicherlich die Ausspähung einer Zeitungsredaktion, die Bespitzelung von Abgeordneten und die Auskundschaftung von Strafverteidigern.
Gibt es dazu Urteile?
Die von mir dargelegten Grundsätze sind vom Bundesgerichtshof schon 1965 entwickelt worden. In jenem Fall hatte ein Angehöriger des Bundesamtes für Verfassungsschutzes illegale Telefonabhöraktionen, die das Bundesamt zusammen mit den Alliierten durchgeführt hatte, dem 'Spiegel‘ preisgegeben. Er hatte darüber hinaus sechs weitere Mitarbeiter, die frühere Gestapo- und SS-Leute waren, namentlich preisgegeben. Für beide Vorgänge wurde er freigesprochen.
Was hat sich Ihre Vereinigung überlegt, um die Vorwürfe gegen den Verfassungsschutz zu erhellen?
Wir haben in einem Brief an den Regierenden Bürgermeister die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission gefordert, die in Absprache mit den betroffenen Berufsverbänden, also insbesondere der Rechtsanwaltskammer und der Journalistenverbände, zu besetzen wäre.
Interview: RiHe
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