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Die Rückkehr des Herrn Bronstein

Trotzkis Enkel sprach auf einer Veranstaltung zum Stalinismus - mitten in Moskau / „Memorial„-Gruppe sammelt Zeitzeugen und Dokumente aus der Stalin-Zeit / Erste öffentliche Ausstellung ihrer Art in der Sowjetunion  ■  Aus Moskau A. Smoltczyk

Die Kinder mußten noch schweigen, jetzt ist es an den Enkeln zu sprechen - auch wenn ihre Sprache längst eine andere geworden ist. Sjewa Wolkow Bronstein ist nach 55 Jahren in die Sowjetunion zurückgekommen. Doch als er am Montag auf die Bühne des Kulturhauses der Aeronautik-Akademie steigt und die Moskowiter im vollbesetzten Saal klatschen, erst zögerlich und dann lauter - weiß er, daß der Beifall nicht ihm, sondern seinem Großvater gilt: dem Leo Davidowitsch Bronstein, genannt Trotzki. Noch immer wartet der Gründervater non grata des Sowjetstaats im Zentralen Revolutionsmuseum der Hauptstadt darauf, unter den Retuschierflecken aufzutauchen - seine rechtliche und politische Rehabilitation steht noch aus - während einige Räume weiter sein Schicksalsgefährte Nikolai Bucharin zur Zeit mit einer Sonderausstellung posthum geehrt wird. Trotzkis rechtliche und politische Rehabilitierung steht noch aus.

Für drei Tage ist nun der Enkel, der heute als Chemiker in Mexiko-City lebt, nach Moskau gekommen, um seine erkrankte Schwester zu besuchen. Es war nicht bekanntgegeben worden, daß Bronstein auf der Veranstaltung der „Memorial„-Gruppe über den Stalinismus sprechen würde - der Saal kann nur 400 Menschen fassen. Seit 18 Uhr sind sie versammelt, vom Anschein her die gleichen Leute, die draußen auf der Wolokolamoje Chaussee übers vereiste Trottoir eilen. Ältere Frauen mit Kaninchenfell am Kragen, skimützentragende Studenten vom Luftfahrtinstitut gegenüber, wenige Teenies und einige ordenklappernde Veteranen.

Zwei Stunden lang haben sie schon beisammen gesessen und kleine Zettelchen beschrieben. Mit Fragen, die von Reihe zu Reihe zum Podium weitergereicht wurden: Ob es denn wirklich so viele Lager gegeben hätte? Wie groß die Schuld der Partei sei, und wie sich der Leninismus zum Stalinismus verhalte. Vor den Historikern und Journalisten auf dem Podium hat sich ein kleiner Laubhaufen von Zetteln angesammelt, und die Zeit reicht kaum, auf alles zu antworten. Natürlich nicht, denn zu viele Jahre durfte nicht nicht gefragt werden. Jedem Zettel, der - mehr schlecht als recht, denn noch ist das Eis dünn - beantwortet wird, folgen drei neue auf dem Weg durch die Sitzreihen.

Da steht jemand auf, unterbricht die Redner und setzt sich nicht eher, bis alle seinen Vorschlag, eine eigene Zeitung herauszubringen, gehört haben; dort grummelt ein Weißhaariger, daß die Ehre der Partei auch durch die Stalin -Jahre nicht in Frage gestellt werden könne, und ein anderer flüstert dem Besucher in brüchigem Deutsch ins Ohr: „Wir haben das ja nicht gewußt damals. Wir sind herumparadiert mit den Bildern Stalins und dachten, die Verhafteten seien Feinde des Volkes, die getötet werden mußten...“

Und plötzlich erscheint ein leibhaftiger Nachgeborener jenes „Volksfeinds und Agenten“, dem Stalins Geheimdienst GPU bis ins mexikanische Exil folgte. Sjewa Bronstein fällt es sichtlich schwer zu sprechen. „Ich unterstütze die Arbeit der Memorial-Gruppe aus ganzen Herzen. Es ist endlich Zeit, Licht in die finsterste aller Perioden zu bringen“ - die Versammlung klatscht und applaudiert mitsamt dem Ideologieredakteur der ZK-Zeitung 'Kultura‘ auf dem Podium, auch, als Bronstein fortfährt und von der Aufgabe spricht, jetzt „einen wahren Sozialismus zu errichten“. Die ersten Zettelchen kommen angewandert: Wie er denn nach Mexiko gelangt sei, möchte jemand wissen. Und Bronstein erzählt, was auch in Gorbatschows Sowjetunion noch nicht zu lesen ist. Wie die GPU ein Mitglied der Familie Trotzkis nach dem anderen jagte und „liquidierte“, wie eines Tages 25 Agenten das großväterliche Haus in Mexiko angriffen und eine Granate noch ins Kinderzimmer flog und wie schließlich ein „blasser Mann im Regenmantel“ den letzten Schlag tat, im Arbeitszimmer Trotzkis. Das Publikum hört zu, sehr still, nur der grummelnde Veteran steht auf und geht, als Bronstein berichtet, daß dem Mörder Trotzkis im Nachhinein ein Lenin -Orden „für seine Verdienste“ verliehen worden sei. Die Fragen an Bronstein sind detailliert und erstaunlich kenntnisreich, versuchen jedoch nicht - noch nicht - Trotzki als Theoretiker zu diskutieren.

Doch als Sjewa Bronstein dann nach zwei Stunden des Erzählens aus dem Saal tritt, kann er sehen, daß nicht wenige im Moskau des Jahres 1988 schon weiterdenken. Die „weißen Flecken“ der Sowjetgeschichte, von denen in Funktionärsreden immer häufiger die Rede ist, sind hier hochkant gestellt und mit Fotos, Dokumenten, Karten und Kommentaren vorsichtig gefüllt: Schautafeln der dreitägigen Ausstellung „Stalinismus und Repression“ der unabhängigen Gruppe „Memorial“. Seit zwei Monaten hat die Gruppe ein Büro am Thälmannplatz, eine Metrostation weiter, eröffnet. Von Gorbatschow kommen einige Rubel, nachdem er auf der 19. Parteikonferenz im Juli versprochen hatte, den Stalinopfern ein Denkmal zu errichten. Zum Großteil lebt „Memorial“ von Spenden, 56.000 Rubel waren es einmal in einer Woche. Jeden Tag kommen bis zu hundert Menschen, Überlebende und Kinder von Nicht-Überlebenden, bringen Dokumente, Fotos und Briefe und füllen die Fragebogen von „Memorial“ aus: Wie wurde gegen Ihre Familie Repression ausgeübt? Von wem? Wo waren Sie wielange verhaftet? Blatt für Blatt wird eine Dokumentation zusammengetragen, deren erste Frucht die Ausstellung im studentischen Kulturhaus ist.

Die erste Ausstellung ihrer Art in Moskau. „Stalin ist tot

-der Stalinismus lebt“, ist hier zu lesen und darunter eine Fotoreportage über den Stalinkult in Georgien; „Kunst und Antikunst“ - der Titel einer Schautafel über Personenkult und Parteipropaganda von Stalin bis zu Breschnew, die über den antagonistischen Widerspruch von speckigen Parteigreisen und leuchtenden Kinderaugen spottet. Andere Fotos zeigen halbverfallene Baracken, rostigen Stacheldraht und Inschriften aus ehemaligen Lagern, und gleich daneben steht eine Gruppe von Besuchern vor einer Landkarte aus dem Geographieunterricht. Manche machen sich Notizen. Die Karte zeigt mit bunten Quadraten 69 Orte, die sonst in der Schule nicht vorkommen. Alle ihre Namen enden auf -lag.

Es sind noch nicht alle Lager. Hundert fehlen noch“, meint ein Mann mit schlechten Zähnen, dessen Alter schwer zu schätzen ist. Er ist im Lager Magadan, in Sibirien, gewesen. Unter dem Fotos sind kleine, hektographierte Zettel angeheftet, sprawka steht darauf - „unschuldig“. Das Datum auf diesen Zetteln, die vieltausendfach unter Chruschtschow verschickt worden sein müssen, ist das Jahr 1955. Unter Glas ein Bild Solschenizyns und einige Texte, gleich darunter fordern Besucher mit Namen und Adresse die Veröffentlichung seiner Schriften. Weil der Platz für die Unterschriften und Kommentare nicht ausreichte, mußten zwei weitere Blätter angehängt werden. Auch im Schaufenster des 'Iswestija'-Gebäudes am Puschkinplatz hängen in diesen Tagen Plakate für die Perestroika. Eines zeigt ein Erstkläßler -Schreibheft. Ein D wird darin geschrieben, eine ganze Zeile lang, darunter ein De, auch eine Reihe, und so fort, bis am Ende das Klassenziel erreicht ist und in Schönschrift ein Wort dasteht: Demokratie. Die Zettel, die den Historikern zugeschoben wurden, die Fragebögen, die im Haus am Thälmannplatz ausgefüllt werden, die Fotos und Briefe in der Ausstellung - all dies sind Versuche, Geschichte zu buchstabieren, mühsam Wort für Wort und Namen für Namen, bis sich ein Satz ergibt - und zu hoffen, daß genügend Zeit für die Erinnerung bleibt.

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