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Handgeschrieben

■ Der 'Berber-Brief‘, eine Zeitung der Nichtseßhaften

Rüdiger Heins

Sie lungern, Weinbomben saufend, auf Parkbänken herum, betteln grau in grau in unseren Fußgängerzonen und stinken. Das ist schon alles, was wir über sie wissen. Denn wer hat schon Interesse an Pennern? Außer der Sozialindustrie, die wir finanzieren, um diese Outlaws von unseren seßhaften Hinterteilen abzuschirmen.

Daß dies den „Sozialprofis“ nicht immer gelingt, zeigt eine der jüngsten Entwicklungen in der Berber-Szene. („Berber“ ist übrigens die Bezeichnung, die sich die sogenannten Nichtseßhaften selbst zugelegt haben.) Seit Mai 1987 erscheint das offizielle Organ der rund 140.000 Nichtseßhaften unserer Republik: der 'Berber-Brief', kurz 'BB‘ genannt. In einer Auflage von rund 2.000 Exemplaren wird er im Verlag OfW (ohne festen Wohnsitz) verlegt. Im 'BB‘ berichten die Betroffenen über das Leben auf der Straße.

Die Handvoll Berber, die für ihre „Kunden“ den 'Berber -Brief‘ herausgibt - sie haben mit Ausnahme des Chefredakteurs Hans Klunkelfuß keinen festen Wohnsitz. Die neuerdings eingetretene Seßhaftigkeit des Hans Klunkelfuß, seines Zeichens Edelberber, ist ein „Nebenprodukt der Zeitungsarbeit“, wie er meint. Das regelmäßige Erscheinen des 'Berber-Briefes‘ hat ihn ans bayerische Mühldorf gebunden. Zunächst lebte er dort in einem Bauwagen auf dem Bahngelände, bis das städtische Sozialamt ihm eine Wohnung zur Verfügung stellte.

Einen festen Redaktionssitz gibt es allerdings noch nicht, denn eine Straßenzeitung wird auch auf der Straße gemacht. Unter der Redaktionsanschrift: Berber-Brief, 8260 Mühldorf, postlagernd, kann man die Redaktion erreichen. Dort holt Hans Klunkelfuß, der zeitweise immer noch unterwegs ist, die eingegangenen Beiträge ab.

Grundsätzlich wird alles veröffentlicht, was von den Berbern eingeht. Die Palette reicht von Gedichten über Prosatexte bis hin zu Beiträgen, in denen sich Berber über „miese Sozialarbeiter“ und „arrogante Herbergsleiter“ auslassen. Aber auch Städte, die sich als berberunfreundlich erwiesen haben, finden sich als abschreckende Beispiele im 'BB‘ wieder. So etwa die Bayernmetropole München: Dort hat die Stadt „schwarze Sheriffs“ eingesetzt, die den Bereich der Innenstadt „von diesem Pack sauberhalten“. Schwarze Sheriffs sind von privaten Unternehmen gestellte Wachmannschaften. Es kommt schon mal vor, daß die „SSler“ über die Stränge schlagen: Im Münchener „U-Bahnviertel“ schnappten sie einen vermeintlichen Penner, drehten ihm die Arme auf den Rücken und ließen ihn im Freien aufs Gesicht fallen.

Der 'Berber-Brief‘ wird auf Din-A4-Format gedruckt. Dieses gängige Format soll anderen Berbern die Möglichkeit geben, den 'BB‘ auf Kopierern zu vervielfältigen, um in einer Art „Schneeballvertrieb“ die Berberzeitung weiterzureichen. Insgesamt gibt es 180 Verteilerstellen im gesamten Bundesgebiet. Abnehmer sind in der Regel Wohlfahrtsverbände, die den 'BB‘ mit einhundert bis zweihundert Exemplaren abonniert haben und in ihren Beratungsstellen verteilen.

Alle Beiträge im 'Berber-Brief‘ sind mit der Hand in sorgfältiger Druckschrift geschrieben. Welcher Berber hat schon eine Schreibmaschine im Rucksack? Gedruckt wird der 'BB‘ auf einem gespendeten Offsetdrucker, der im Büro der Mühlberger Grünen steht. Die erste Ausgabe entstand in Wetzlar. Anlaß gab das dortige Sozialamt. Dort wurden noch bis vor kurzem Wertgutscheine in Höhe von 6,50 Mark ausgegeben, mit denen die Berber in vorgeschriebenen Geschäften einkaufen mußten. Den Gutschein gab es allerdings nur einmal im Monat. Da platzte Hans Klunkelfuß der Kragen. Mit anderen Kollegen setzte er sich in die Fußgängerzone. Sie hatten sich ein Transparent gemalt, auf dem stand: „Wetzlar läßt uns hungern - mit einem Gutschein von 6.50 DM im Monat kann man nicht leben!“

Das Bundessozialhilfegesetz schreibt einen Tagessatz von 3,46 Mark vor. Die Auszahlung hat in bar zu erfolgen. Dennoch weigern sich die meisten Städte in der Bundesrepublik, diesen Betrag auszuzahlen. Auch ein Jahr nach dem „Jahr der Obdachlosen“. So auch in Wetzlar. Der Protest von Klunkelfuß und anderen Berbern führte zum Erfolg, auch ohne gerichtlichen Einwand; denn in Städten, in denen Berber hartnäckig auf ihrem Recht beharrten, wurden die Verwaltungen per Gerichtsbeschluß dazu aufgefordert, den regulären Tagessatz auszuzahlen. Während ihrer Protestsitzung in Wetzlar schreiben die Berber von Hand Flugblätter, kopieren diese und verteilen sie an die vorbeigehenden Passanten. Das war sozusagen die Geburtsstunde des 'Berber-Briefes‘. Der Erfolg dieser denkwürdigen Aktion veranlaßte die Berber, künftig ein Informationsblatt herauszugeben, das in regelmäßigen Abständen in die Öffentlichkeit gelangen sollte. Kurz nach Erscheinen der ersten Ausgaben zogen auch andere Städte in der Wetzlarer Umgebung nach und zahlten den vollen Tagessatz an die Berber aus. Darunter Marburg und Limburg, um nur zwei zu nennen. Mittlerweile ist der 'BB‘ so etabliert, daß schon Lokalredaktionen eingerichtet wurden. Nürnberg, Landshut, Freiburg, Esslingen und Osnabrück haben schon eigenständige Redaktionen, die schwerpunktmäßig aus ihrem Einzugsgebiet berichten. Die letzten Ausgaben des 'Berber-Briefes‘ haben bereits einen Münchner Lokalteil, der an die Bundesausgabe angeheftet wird. Für die anderen Lokalredaktionen ist zukünftig dasselbe geplant.

Die 'Berber-Brief'-Macher sehen in ihrem Medium eine Vorstufe zu bestimmten Organisationsstrukturen, die in Zukunft einheitliches Handeln der Berber regeln sollen.

Unter den Berbern gibt es allerdings noch eine ältere Kommunikationsform, die für einen gewissen, wenn auch ungenaueren Informationsfluß sorgt: das Berbertelefon. Die Berber geben ihre Informationen mündlich weiter, teilen sich auf dem mündlichen Wege mit, welches Sozialamt wieviel auszahlt oder in welcher Herberge es das beste Essen gibt. Diese Informationen erreichen unterwegs immer irgendeinen Berber, der wiederum als Sender, sozusagen flächendeckend, die Informationen weitergibt.

Das Berbertelefon wird auch dazu benutzt, verschlüsselte Nachrichten weiterzugeben. In der eigenen Berbersprache werden Informationen weitergegeben, die für Fettaugen (Normalbürger) nicht zu verstehen sind. Die Berbersprache, die ähnlich dem Rotwelsch oder „Kochemer Blatt“ nur vom fahrenden Volk gesprochen wird, soll den seßhaften Bevölkerungsteil von bestimmten Entwicklungen in der Berber -Szene ausschließen. In der Bande des Schinderhannes wurde beispielsweise „Kochemer Blatt“ gesprochen. Einige Begriffe dieser vergessenen Sprache werden noch bis auf den heutigen Tag in der Berbersprache verwendet (siehe Kasten).

In der Berber-Szene tut sich etwas: Beim Blattmachen alleine wollen es die Leute von der Straße nicht belassen. Im Gegenteil: Vor kurzem starteten einige den Versuch, eine Lesung mit eigenen Gedichten und Prosatexten zu veranstalten. Dafür hatten sich die Autoren das Kasseler Staatstheater ausgesucht. Vor einer Kulisse von 150 leeren Bierkästen, die eigens von einer Brauerei herbeigeschafft worden waren, hielten sie ihre erste öffentliche Lesung. Peter Gotthardt, einer der Autoren, meinte, daß da ein „astreines Publikum“ zu Gast im Theaterforum war. Die anschließende Diskussion verlief sachlich. Die Veranstalter hatten Mühe, ihre Zuhörer wieder loszuwerden, denn die wollten mit dem Fragen nicht mehr aufhören. Peter Gotthardt war am meisten darüber verwundert, daß keine Fragen zum Thema Alkohol kamen. Dabei hatte er sich gerade auf dieses Thema vorbereitet.

Die neueste Ausgabe des 'Berber-Briefes‘, die Ende Dezember erschienen ist, ist nach Auskunft Peter Gotthardts „die geilste Ausgabe, die es je gab!“.

Im Frühjahr 1989 erscheint im Matthias-Grünewald-Verlag ein Buch des Autors zum Thema.

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