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„Mit Gasmasken säßen wir nicht hier“

■ Die Kurden des Irak wollen den Kampf um ihre Heimat nicht aufgeben / Aus Irakisch-Kurdistan Ralf Schneider

Während die kurdischen Guerillagruppen aus dem Irak von ihren Stützpunkten an der irakisch-iranischen Grenze aus versuchen, den Kampf gegen die Truppen Saddam Husseins weiterzuführen, sind die zivilen Flüchtlinge aus den zerstörten Dörfern im kurdischen Irak in notdürftigen Zeltunterkünften dem Winter fast schutzlos ausgeliefert. Zwar sind die Flüchtlinge im Iran nicht in Lagern isoliert, an Kleidung und Nahrung mangelt es trotzdem. Der Status der Flüchtlinge ist im Iran völlig ungeklärt.

Qasmarash im Dezember: Mitten durch die Talschlucht im rauhen kurdischen Bergland verläuft die Grenze zwischen Iran und Irak. Obwohl es schon spät im Jahr ist, sind die Täler noch grün, nur die Gipfel der Dreitausender des Zagrosgebirges sind schneebedeckt. Neben dem improvisierten Schlagbaum des iranischen Grenzpostens sind ein paar Lehmhäuser, wie sie in ganz Kurdistan zu sehen sind, in den Berghang hineingebaut. Am Ufer des Flusses, der entlang der Schotterpiste verläuft, sind einige Zelte aufgeschlagen. Hier hat die Patriotische Union Kurdistans (PUK), eine der beiden großen Widerstandsorganisationen der irakischen Kurden, ihr Hauptquartier bezogen. Nach der Vertreibung durch die Giftgasangriffe des irakischen Regimes mußten sich die Partisanen in die unzugängliche Gebirgsregion an der Grenze zurückziehen. Früher diente diese Grenzstation als Versorgungsstützpunkt für die befreiten Gebiete im Irak.

„Wärt ihr vor zwei Jahren mit 10.000 Gasmasken gekommen, säßen wir jetzt nicht hier. Ihr seid zu spät. Nur der massive Einsatz von Giftgas hat es Saddam ermöglicht, unsere Gebiete zu besetzen. Wir mußten weichen, um den Rückzug der Zivilbevölkerung zu organisieren“, erzählt uns einer der Pesher- gakommandanten beim Begrüßungstee.

Nachdem wir die Grenze überquert haben, befinden wir uns im Niemandsland, ein 10 bis 20 Kilometer breiter Streifen entlang der Grenze, den die irakische Armee bisher nicht unter ihre Kontrolle bringen konnte. Immer wieder begegnen uns Trupps von Bewaffneten, die auf dem Weg in den Irak sind oder von dort zurückkehren.

Mustafa Nourshirvan, der stellvertretende Generalsekretär der PUK, erläutert uns die veränderte Taktik: „Zur Zeit sind in allen Gebieten Kurdistans kleinere Gruppen von Peshmergas („die, die dem Tod in die Augen sehen“) unterwegs, die nach der Guerillataktik zuschlagen und sich sofort zurückziehen. Diese kleinen Abteilungen bestehen aus 5 bis maximal 15 Kämpfern. Sie operieren um die großen Städte herum, aber auch in der Ebene von Arbil, und koordinieren sich mit den Organisationen und den militärischen Einheiten in den Städten.“

Scheinbare Normalität

Am Rande der Schotterpiste, die ins Niemandswland führt, hat ein findiger Händler in einem Zelt einen Kebab-Stand eingerichtet. Ein wichtiger Umschlagplatz für Neuigkeiten von beiden Seiten der Grenze. Hier treffen sie sich alle, die Peshmergas, die aus dem Irak zurückkommen, und die Leute aus den umliegenden Dörfern, die mit ihren Mauleseln, beladen mit Bergen von Mehl, Zucker und Fett, die sie auf den Schwarzmärkten im Iran erstanden haben, vor dem Kebab -Stand anhalten.

Über einen schmalen Fußpfad, der sich den steilen Berghang hochzieht, erreichen wir nach einer Stunde Fußweg eines der Dörfer, die nicht Saddam Husseins Politik der verbrannten Erde zum Opfer gefallen sind. Zum Schutz gegen den strengen Winter sind die Häuser eng zusammen und übereinander in den Berg gebaut worden. Über den kleinen Bach, der durch das Dorf fließt, führt eine Brücke, die jedes Jahr nach der Schneeschmelze wieder neu aufgebaut werden muß. Hier hat ein Händler in einer schnellerrichteten Lehmhütte auf grob zusammengezimmerten Regalen seine Waren gestapelt. „In unserem 'Supermarkt‘ bekommst du einfach alles“, hatten uns unsere kurdischen Begleiter schon vorher versichert. Das Angebot reicht dann tatsächlich auch von der schon etwas abgegriffenen Ausgabe eines persisch-deutschen Wörterbuchs über aus dem Irak geschmuggelte Zigaretten und einige Konserven bis hin zur Seife.

Trotz der Bedrohung durch die irakische Armee, die nur wenige Kilometer von hier entfernt stationiert ist, scheint das Leben im Dorf seinen gewohnten Gang zu gehen. Zwischen den Häusern toben die Kinder herum, ein paar alte Männer sitzen auf der Straße zusammen, auf einer Wiese vor dem Dorf spielen die Jugendlichen Volleyball. „Unser kurdischer Nationalsport“, meint der Dorfvorsteher.

Ärzteorganisation

Einige der Dorfbewohner treffen wir am nächsten Morgen in Qasmarash wieder. Am Rande des Hauptquartiers der PUK haben die Ärzte ein Zelt als Krankenstation eingerichtet. Sie haben hier alle Hände voll zu tun. Jeden Morgen ist der Platz vor dem Zelt voll mit Menschen, die manchmal zwei Tage bis hierher unterwegs waren. Verletzte Kämpfer kommen, Mütter bringen ihre kleinen Kinder, ein alter Mann läßt seine Kopfverletzung behandeln. Die jungen Ärzte versuchen mit ihren provisorischen Mitteln das Beste zu leisten, doch ihre Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Dr.Schalau ist einer der Ärzte. Seit acht Jahren ist er bei der „Revolution“, wie die Kurden ihre Nationalbewegung nennen. Wie alle anderen hat er in Bagdad Medizin studiert und dann einige Jahre in einem Krankenhaus als Assistenzarzt gearbeitet, bis er sich der Revolution anschloß und als Arzt in den befreiten Gebieten tätig war. „Wir sind in erster Linie Partisanen und danach Ärzte. Wir behandeln die Patienten nicht nur, sondern versuchen auch bei jeder Gelegenheit, seien es Behandlungen oder Besuche auf den Dörfern, die Leute über Hygienevorschriften und Vorbeugemaßnahmen aufzuklären. Bei den Schulungen der Peshmergas geben wir Unterricht in Erster Hilfe und in Transport und Versorgung Verletzter.“ Wenn Dr.Schalau von seiner Arbeit in den befreiten Gebieten erzählt, wird er etwas wehmütig. Dort hatten sie ein Krankenhaus mit allem, was sie benötigten: einen Operationsraum, eine gute medizinische Ausstattung, ein Labor, ein Röntgengerät und mehrere Zelte als Station.

Vor anderthalb Jahren haben die Ärzte und Hilfsärzte sich einen parteiübergreifenden organisatorischen Rahmen gegeben, die Kurdish Relief Association (KRA). Ihr Ziel ist die Gründung einer international anerkannten Organisation wie Rotes Kreuz oder Roter Halbmond. Nach der Flucht und der Vertreibung aus Kurdistan-Irak organisieren sie nun die Gesundheitsversorgung für die Flüchtlinge im Iran. In fast allen Flüchtlingslagern unterhalten sie Ambulanzzelte, in denen Hilfsärzte, die eine zweijährige Fachausbildung haben, Kranke und Verletzte behandeln. Die schwierigeren Fälle überweisen sie in eines der drei Gesundheitszentren, die sie im Iran inzwischen aufgebaut haben; eines davon ist das von Qasmarash. Für Operationen steht ihnen im Kreiskrankenhaus von Saqqez, der nächstgelegenen Stadt, ein Raum zur Verfügung. In Saqqez unterhalten sie auch eine Zahnarztpraxis.

„Wir konnten nur unsere Haut retten“, erzählen die Ärzte, die inzwischen wieder in verschiedenen Einrichtungen der KRA im Iran arbeiten, über ihre Flucht aus dem Krankenhaus in Sergalo im befreiten Gebiet. „Unsere ganze medizinische Ausrüstung mußten wir bei den Bombardierungen mit Giftgas zurücklassen.“

Giftgas-Verletzungen

Viele der Patienten in Saqqez sind bei den Giftgasangriffen verletzt worden. Auch heute, mehrere Monate danach, leiden sie noch an den Folgen. „Meine Augen brannten, eine Woche lang konnte ich nichts mehr sehen“, schildert einer der Betroffenen die Wirkung des Giftgases. „Jetzt habe ich immer noch Schwierigkeiten beim Atmen und kann keine Kälte vertragen.“ Er zieht seinen Pullover hoch und zeigt auf die Verbrennungen rund um seine Hüfte, wo er den Schal getragen hat, der zur kurdischen Tracht gehört. Senfgas und Yperit greifen besonders die verschwitzten Körperregionen und die Atemwege an, wo es Verbrennungen und Verätzungen hervorruft.

Über 40.000 Kurden aus dem Irak sind in den letzten Monaten direkt in den Iran gefohen. Dazu kommt noch die Zahl derjenigen, die nach den letzten Angriffen, unmittelbar nach dem Waffenstillstand im Golfkrieg, in die Türkei flüchten mußten, dann aber, um der Repression und dem Elend in den türkischen Auffanglagern zu entgehen, in den Iran weiterflohen. Hier leben sie zum Teil bei ihren iranisch -kurdischen Verwandten in den Dörfern und Städten der Grenzregion. Der größte Teil von ihnen ist aber nach wie vor in Lagern untergebracht, die von der iranischen Regierung als „Gästelager“ bezeichnet werden; sie sind auf die Provinzen West-Aserbeidschan, Bakhtaran und Kurdistan verteilt. Im größten dieser Zeltlager, in der Nähe der Stadt Piranschahr, leben 16.000 Menschen. Ihr rechtlicher Status ist bislang ungeklärt.

Iranisch-Kurdistan ist heute, vier Monate nach dem Waffenstillstand im Golfkrieg, immer noch besetztes Gebiet. Auf dem Weg von Teheran bis zur Grenze müssen wir wieder und wieder Straßensperren passieren; die Armee und die Pasdaran („Revolutionswächter“) kontrollieren die Ausweise und das Gepäck aller Durchreisenden.

Sardasht, eine Kleinstadt im Norden des iranisch-irakischen Grenzgebietes. Bis vor kurzem war diese Region Ziel der irakischen Bombenangriffe. Jetzt wurde sie zur Zuflucht für einige tausend Kurden aus dem Irak, die hier in mehreren Flüchtlingslagern leben.

Eines davon ist das Lager am Rande des Dorfes Bezille, etwa 20 Kilometer von Sardasht entfernt. Die niedrigen Zelte, einige tragen das Emblem des Iranischen Roten Halbmondes, stehen versteckt zwischen Büschen und Sträuchern an einem Berghang; auf den ersten Blick ist ihre Anzahl nicht auszumachen. 1.200 Menschen leben hier. Sie kommen aus sechs Dörfern der Region Sergalo in der Provinz Suleimaniya in Irakisch-Kurdistan.

Nach monatelanger Flucht durch das unzugängliche Bergland, die viele von ihnen nicht überlebten, überquerten sie im Juli die Grenze zum Iran und leben hier seitdem unter den schwierigsten Bedingungen. Schon jetzt, noch vor Einbruch des strengen Winters, ist es in dieser Bergregion sehr kalt. Die dünnen Zelte weichen schon bei leichtem Regen völlig durch und bieten keinen Schutz mehr. Die bis zu 10köpfigen Familien müssen mit 4 bis 5 Decken auskommen; deshalb versuchen sie, die Zelte nachts zu heizen. Ihr einziges Brennmaterial ist die selbstgemachte Holzkohle, die sie auf einem zurechtgebogenen Blech verbrennen. Mit diesen offenen Feuerstellen in den Zelten setzen sie sich aber auch der Gefahr einer Rauchvergiftung aus.

Angst vor dem Winter

Die Kinder haben nur leichte Sommerkleidung, viele keine Schuhe. Eine Mutter zeigt auf die Füße ihrer kleinen Tochter, die vom Barfußlaufen im Matsch aufgerissen und entzündet sind. „Die Kinder haben nichts zum Anziehen, nur das, was wir hier als Almosen bekommen haben“, sagt sie. In einer windgeschützten Ecke, zwischen Sträuchern und Zelten, sitzt ein kleines Mädchen zitternd in einer Schüssel mit Wäsche, während die Mutter es mit Wasser übergießt, das sie auf einem Holzfeuer erwärmt hat. Die Temperatur liegt wenig über Null.

Wasser gibt es im Lager nicht. Die Frauen müssen eine Viertelstunde zur Wasserstelle des nächstgelegenen Dorfes laufen. In großen, alten Blechkanistern, die Kochtopf, Waschschüssel und Wasserbehälter zugleich sind, schleppen sie das Wasser auf den Schultern zurück.

Vor einem Zelt, in der Mitte des Lagers, backen Frauen in einem Erdofen das dünne kurdische Fladenbrot, das hier zum Hauptbestandteil der Nahrung geworden ist; es gibt kaum etwas anderes. Die iranische Regierung hat bisher erst einmal Lebensmittelrationen verteilt: 3 Kilo Mehr, 3 Kilo Reis, 1 Kilo Fett, 1 Kilo Zucker und 300 Gramm Tee für jede Familie. Sie sind jedoch schon länst aufgebraucht. Mit dem Notwendigsten versorgt werden die Flüchtlinge jetzt von den kurdischen Befreiungsorganisationen aus dem Irak wie der Patriotischen Union Kurdistans (PUK); außerdem helfen ihnen die iranischen Kurden mit dem, was sie selbst entbehren können. Die, die hierher geflohen sind, sind die Überlebenden der letzten irakischen Offensiven, die nach Angaben der kurdischen Organisationen bisher 20.000 Menschenleben gefordert haben. Allein bei dem Giftgasangriff gegen die kurdische Stadt Halbja im März letzten Jahres fanden 5.000 Menschen innerhalb weniger Stunden den Tod. Heute sind die über 5.000 Dörfer im irakischen Kurdistan dem Erdboden gleichgemacht. Das Land ist verbrannte Erde.

Die kurdischen Organisationen haben sich unter diesem massiven Druck der letzten Monate neu orientieren müssen. In der „Kurdischen Front“ haben sich alle größeren Parteien zusammengeschlossen. Aus dem Exil und von dem Streifen Niemandsland aus, wohin sie sich zurückziehen mußten, wollen sie ihren Kampf gegen das Regime in Bagdad weiterführen. Als einen der Fehler der letzten Jahre begreifen sie die Vernachlässigung ihrer politischen Arbeit auf internationaler Ebene.

„Die westlichen Firmen, die jetzt auf den Profit beim Wiederaufbau des Irak setzen, irren sich und handeln kurzsichtig, wenn sie glauben, daß nun nach dem Waffenstillstand im Golfkrieg ihre große Stunde geschlagen hat. Sie sollen wissen, daß wir ihre Einrichtungen beschädigen und ihnen materielle Verluste zufügen werden, solange der Krieg in Kurdistan weitergeführt wird. Ihre Mitarbeiter können sich in den Städten nicht frei bewegen, ohne sich vor Festnahmen und Entführungen fürchten zu müssen.“

In Kurdistan gibt es noch keinen Waffenstillstand.

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