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Termin derZwangsräumung am...

■ Immer mehr BremerInnen verlieren ihre Wohnungen per Gerichtsbeschluß / Letzte Bleibe: Obdachlosenasyl / Preisgünstige Wohnungen kaum wieder zu finden / Sozialamtfür Mietschulden „nichtzuständig“ (s. Kommentar von gestern, taz 5.1.89)

Punkt 11 Uhr stehen vierkräftige Herren vor der Haustür. Den Möbelwagen haben sie gleich mitgebracht. Obergerichtsvollzieher Heinz Dörgeloh kommt mit 10 minütiger Verspätung nach: Zwangsräumung gegen Birger W., Kamphofer Damm 47. Mit einem lapidaren Schreiben war Mieter Birger W. vorgewarnt worden: „In Sachen Bremische Gesellschaft gegen Sie habe ich den Räumungstermin auf Mittwoch, den 4. Januar 1989 festgesetzt, gez. Obergerichtsvollzieher.“ Dörgeloh kommt aufgrund eines Beschlusses des Bremer Amtsgerichts. Weil Birger W. Mieten in Höhe von 1.955 Mark und 4 Pfennigen schuldig geblieben ist, hatte das Gericht um

standslos verfügt:„Der Beklagte wird verurteilt, die Wohnung nebst Zubehörräumen zu räumen undan die Klägerin herauszugeben.“

Die Hintergründe, warumBirger W. drei Monate langs eine Miete nicht in voller Höhe zahlen konnte, hatten das Gericht ebenso wenig interessiert wie die Bremische Gesellschaft als Vermieterin und jetzt den Gerichstvollzieher. W. war im Juli 1988 arbeitslos geworden, nachdem seine ABM-Stelle beim Bremer Amt für Straßen-und Brückenbau ausgelaufen war. Auf Arbeitsamtskosten hatte W. den Bremer Domshof mitgepflastert. Der Platz war fertig, W. konnte gehen. Das Arbeitslosengeld ließ aufsich warten, das So

zialamtlehnte Überbrückungs -Hilfe ab und erklärte sich lediglich bereit, Sozialhilfe in Höhe von monatlich DM 17,80 zu zahlen. Ein Darlehen an W., von dem zumindest die Miete bis zur Bewilligungs eines Arbeitslosengeldes bezahlt werden könnte, lehnte das Sozialamt gleichfalls ab. Begründung: 535,20 für eine 59 -Quadratmeter-Wohnung sei zu „luxuriös“. Der zuständige Sachbearbeiter: „Ihnen steht maximal eine Wohnung von 50 qm zu, der Mietzins darf sich höchstens auf 450, warmbelaufen.“ Es stehe W. selbstverständlich frei, sich „eine neue Wohnung zusuchen“. Auf W.'s Hinweis, seine intensiven Bemühungen um eine preisgünstigere Wohnungen seien ange

sichts der Situation auf dem Bremer Wohungsmarkt bislang erfolglos geblieben, erfuhr W. mündlich: „Ein paar Tage im Obdachlosenasyl werden Ihnen sicher nicht schaden.“

Birger W. ist in Bremen längst kein Einzelfall mehr. In der Selbsthilfegruppe „Solidarische Hilfe“ gehören Leute, die ihre Wohnung per Zwangsräumung verlieren, längst zum Alltag. Vier bis fünf Zwangsräumungen erleben die Mitarbeiter der „Solidarischen Hilfe“ durchschnittlich pro Woche. Rund 650 SozialhilfeempfängerInnen wies das Sozialamt allein imletzten Jahr in Obdachlosenheime und Billig-Absteigen ein. Früher, erinnern sich die Mitarbeiterder „Solidarischen

Hilfe“, nutzten die Sachbearbeiter im Sozialamt häufig ihren „gesetzlichen Ermessensspielraum“, um Mietschulden zu übernehmen und so Obdachlosigkeit abzuwenden. Auch die kommunalen Wohnungsbaugesellschaftenließen schon mal über Mietstundungen mit sich reden. Inzwischen ist der Wohnungsmarkt für Alleinstehende mit geringem Einkommen dicht, weiß der Vorsitzende der „Solidarischen Hilfe“, Herbert Wiedermann: „Die Wohnungsgesellschaften lassen erbarmungslos räumen, weil sie jederzeit solvente Nachmieter finden.“ Wiedermann sieht nur eine einzige Lösung des Problems: Den Neubaupreisgünstiger Sozialwohnungen. Solange dafür keine

Chance bestehe, müsse das Sozialamt notfalls auch für Mietschulden aufkommen.

Für Birger W. gab es vorgestern kurzfristig eine andere Lösung: Sozialamt-Sachbearbeiter Christen zeigte sich angesichts der anwesenden Journalisten und der Vertreter der „Solidarischen Hilfe“ ausnahmsweise gnädig. Bis zum 28. Januar darf Birger W. noch am Kamphofer Damm wohnen. Die Miete allerdings hat er selbst zu bezahlen.

Gerichtsvollzieher Dörgeloh zu dem unerwarteten „Einweisungsbeschluß“ W.s inseine eigene Wohnung: „Das sollten wir öfter haben!“ Dann zog er wieder ab: „Auf Wiedersehen.“

K.S.

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