: Martin Heidegger Werk und Weltanschauung
■ Victor Farias‘ „Heidegger und der Nationalsozialismus“, letztes Jahr, anläßlich der französischen Ausgabe, viel diskutiert, erscheint nächste Woche im S.Fischer Verlag auf deutsch. Jürgen Habermas hat einen großen einführenden Essay dazu geschrieben. Wir bringen heute einige Auszüge daraus. Wir danken ihm und dem Verlag für diesen Vorabdruck.
Jürgen Habermas (...)
Heideggers Werk hat sich längst von seiner Person gelöst. Mit Recht beginnt Herbert Schnädelbach seine Darstellung der Philosophie in Deutschland mit dem Hinweis, daß „unser heutiges Philosophieren maßgeblich von den Impulsen bestimmt (ist), die damals von Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1921), Georg Lukacs‘ Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) und Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) ausgingen“. Mit Sein und Zeit hatte sich Heidegger gleichsam über Nacht als ein Denker von Rang zur Geltung gebracht. (...) Dieser neue Einsatz des Denkens war um so verblüffender, als er zu erlauben schien, die klassischen Fragestellungen der Aristotelischen Metaphysik mit den virulenten Motiven der Kierkegaardschen Existenzdialektik zu besetzen. Noch von heute her gesehen bildet dieser neue Anfang den wohl tiefsten Einschnitt in der deutschen Philosophie seit Hegel.
Während die in Sein und Zeit durchgeführte Detranszendentalisierung des weltkonstituierenden Ich ohne Beispiel war, bildete die später einsetzende, an Nietzsche anknüpfende Vernunftkritik das schon eher zu erwartende idealistische Gegenstück zu einer materialistischen, zwar noch Hegel verhafteten, aber Marx mit Weber produktiv verbindenden Kritik der verdinglichenden oder instrumentellen Vernunft. Den Reichtum an Einzelanalysen, die unter anderem die ontologischen Prämissen neuzeitlichen Denkens freigelegt haben, hat Heidegger mit der Einengung des Blicks auf die Dimension einer im ganzen unbedenklich stilisierten Geschichte der Metaphysik bezahlt. Diese Abstraktion von gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen hatte Folgen für Heideggers sozialwissenschaftlich ungefilterten Zugriff auf kursierende Zeitdeutungen. Je mehr die reale Geschichte hinter der „Geschichtlichkeit“ verschwand, um so leichter konnte sich Heidegger auf einen naiv-prätentiösen Gebrauch von ad hoc aufgegriffenen Gegenwartsdiagnosen einlassen.
Mit seiner detranszendentalisierenden und seiner metaphysikkritischen Denkbewegung hat Heidegger, dessen Werk gewiß kritisiert, dessen Stellung aber während der dreißiger und vierziger Jahre unangefochten blieb, an deutschen Universitäten eine ununterbrochene Wirkung ausgeübt. Diese schulbildende Wirkung reicht bis in die späten sechziger Jahre. (...) Während der lange anhaltenden Latenzperiode der Bundesrepublik bis zum Beginn der sechziger Jahre behielt die Heidegger-Schule eine beherrschende Stellung; daß dann auch die analytische Sprachphilosophie (mit Wittgenstein, Carnap und Popper) und der westliche Marxismus (mit Horkheimer, Adorno und Bloch) an deutschen Universitäten wieder Fuß faßten, bedeutete nur eine verspätete Normalisierung der Verhältnisse. (...)
Das fragwürdige politische Verhalten eines Autors wirft auf sein Werk gewiß einen Schatten. Aber das Heideggersche Werk, vor allem Sein und Zeit, hat einen so eminenten Stellenwert im philosophischen Denken unseres Jahrhunderts, daß die Vermutung abwegig ist, die Substanz dieses Werkes könne durch politische Bewertungen von Heideggers faschistischem Engagement mehr als fünf Jahrzehnte danach diskreditiert werden. Theorie des
„In-der-Welt-Seins“
Welches Interesse kann dann aber, abgesehen vom historisch distanzierten des Wissenschaftsbetriebs, eine Beschäftigung mit Heideggers politischer Vergangenheit heute, und zwar hier in der Bundesrepublik, beanspruchen? Ich denke, daß diese Dinge unser Interesse vor allem unter zwei Gesichtspunkten verdienen. Zum einen ist Heideggers Einstellung nach 1945 zu seiner eigenen Vergangenheit exemplarisch für eine Geisteshaltung, die die Geschichte der Bundesrepublik nachhaltig, bis weit in die sechziger Jahre hinein geprägt hat. Deren mentalitätsbildende Kraft reicht sogar, wie der sogenannte Historikerstreit zeigt, bis in unsere Tage. Um das Symptomatische an dem verweigerten Sinneswandel, an der beharrlichen Praxis der Verleugnung ablesen zu können, muß man sich darüber informieren, was Heidegger bis zu seinem Tode verdrängt, beschönigt und verfälscht hat. Zum anderen bedarf in Deutschland jede Überlieferung, die gegen das NS-Regime blind gemacht hat, einer kritischen, ja argwöhnischen Aneignung. Das gilt gewiß für eine Philosophie, die bis in ihre rhetorischen Ausdrucksmittel hinein die weltanschaulichen Impulse ihrer Zeit aufgesogen hat. Sowenig der Wahrheitsgehalt einer Theorie dadurch in Mißkredit gebracht werden darf, daß man sie mit einem ihr Äußerlichen assoziiert, so wenig kann und darf eine traditionsmächtige und komplexe Gestalt des objektiven Geistes in toto unter Naturschutz gestellt und schon gegen die Frage immunisiert werden, ob sich in ihr sachliche und weltanschauliche Motive verquickt haben. (...)
Mit einigen, die Untersuchung von Farias ergänzenden Bemerkungen möchte ich eine Frage aufnehmen, die ich an anderem Ort schon einmal gestellt habe: ob zwischen Heideggers Philosophie und Heideggers politischer Wahrnehmung der zeitgeschichtlichen Situationen ein innerer Zusammenhang bestanden hat. (...)
Die in Sein und Zeit durchgeführte Analytik des Daseins blieb eine, wie immer auch existentiell verwurzelte, Theorie des „In-der-Welt-Seins“ überhaupt. Das erklärt den immer wieder bemerkten Kontrast zwischen dem Anspruch eines radikal historischen Denkens und der beharrlich durchgehaltenen Abstraktion der Geschichtlichkeit (als der Bedingung für historische Erfahrung überhaupt) von den historischen Prozessen selber.
Die bahnbrechende Leistung von Sein und Zeit besteht nun darin, daß Heidegger einen entscheidenden argumentativen Schritt zur Überwindung des bewußtseinsphilosophischen Ansatzes tut. Diese Leistung mag durch den motivationalen Hintergrund einer persönlichen Lebenskrise beleuchtet werden, aber beeinträchtigt worden ist sie durch diesen Entstehungskontext nicht. Natürlich spiegelt sich auch schon in diesem zentralen Werk jener Zeitgeist, dem der Autor verhaftet war. Eine bildungsbürgerliche Kritik an der Massenzivilisation drückt sich insbesondere in der zeitdiagnostischen Färbung der Analyse des „Man“ aus; die elitäre Klage über die „Diktatur der Öffentlichkeit“ war Gemeingut der deutschen Mandarine der zwanziger Jahre und findet sich in ähnlicher Weise bei Karl Jaspers, E.R. Curtius und anderen. Die Ideologie, die dem hidden curriculum deutscher Gymnasien eingeschrieben war, hat ganze Generationen geprägt - auf der Linken wie auf der Rechten. Zu dieser Ideologie gehört das elitäre Selbstverständnis der Akademiker, Geistfetischismus, die Idolatrisierung der Muttersprache, die Verachtung alles Sozialen, das Fehlen einer in Frankreich und den USA längst ausgebildeten soziologischen Blickrichtung, die Polarisierung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften usw. Alle diese Motive finden sich unreflektiert bei Heidegger wieder. Etwas spezifischer sind die merkwürdigen Konnotationen, mit denen er schon damals Begriffe wie „Schicksal“ und „Geschick“ besetzt hat. Das Pathos des heroischen Nihilismus verbindet Heidegger mit den konservativ-revolutionären Geistesverwandten, mit Spengler, den Brüdern Jünger, Carl Schmitt und dem Tat-Kreis. Aber den Einbruch dieser weltanschaulichen Motive in Heideggers Selbstverständnis als eines Philosophen und gar in seine wesentlichen philosophischen Gedanken datiert Otto Pöggeler wohl mit Recht erst auf das Jahr 1929, auf die Zeit der Weltwirtschaftskrise, überhaupt des Niedergangs der Weimarer Republik. (...) Verweltanschaulichung
der Theorie
Meine These lautet: Seit etwa 1929 beginnt eine Verweltanschaulichung der Theorie. Seitdem dringen Motive einer unklaren jungkonservativen Zeitdiagnose in die Herzkammern der Philosophie selber ein. Heidegger öffnet sich jetzt erst ganz dem antidemokratischen Denken, das in der Weimarer Republik auf der Rechten prominente Fürsprecher gefunden und sogar originelle Geister angezogen hatte. Jene Defizite, die sich in Sein und Zeit immanent nachweisen lassen, konnte Heidegger nicht als Defizite wahrnehmen, weil er die verbreiteten antiwestlichen Affekte seiner Umgebung teilte und das metaphysische Denken gegenüber dem falschen Universalismus der Aufklärung für das Ursprünglichere hielt. Die konkrete Geschichte blieb für ihn ein bloß ontisches Geschehen, der soziale Lebenszusammenhang eine Dimension des Uneigentlichen, die Aussagenwahrheit ein abgeleitetes Phänomen und Moralität nur ein anderer Ausdruck für verdinglichte Werte. Aus solchen Voreingenommenheiten lassen sich blinde Flecke in der Durchführung des innovatorischen Ansatzes von Sein und Zeit erklären. (...)
Pöggeler betont wohl zu Recht den biographischen Einschnitt 1929. Drei Dinge treffen zusammen. Erstens: Damals kamen Hölderlin und Nietzsche als Autoren in den Blick, die die nächsten Jahrzehnte dominieren sollten. Damit bahnte sich jene neuheidnische Wende an, die die christlichen Motive zugunsten eines mythologisierenden Rückgriffs aufs Archaische in den Hintergrund drängen wird. Noch am Ende seines Lebens setzt Heidegger seine Hoffnung auf „einen“ Gott, der uns retten kann. (...)
Zweitens wandelte sich das Selbstverständnis des Philosophen. Während seiner Davoser Begegnung mit Cassirer formuliert Heidegger schroffe Absagen an die Welt Goethes und des deutschen Idealismus. Das war im März 1929. Wenige Monate später, nach der Freiburger Antrittsvorlesung im Juli, vollzieht sich der Bruch mit dem Lehrer Husserl. Zur gleichen Zeit greift Heidegger auf ein Thema zurück, das er zuletzt vor zehn Jahren behandelt hatte; er liest über das „Wesen der Universität und das akademische Studium“. Er scheint damals den Bruch mit der akademischen Philosophie bewußt vollzogen zu haben, um fortan in einem anderen, nichtprofessionellen Sinne zu philosophieren - in der unmittelbaren Konfrontation mit den als drängend empfundenen Problemen der Zeit. Die Universität stellte sich ihm, wie sich in der Rektoratsrede von 1933 zeigen sollte, als der bevorzugte institutionelle Ort für eine unkonventionell herbeizuführende geistige Erneuerung dar.
Drittens öffnete sich Heidegger auch auf dem Katheder für die Gegenwartsdiagnosen jungkonservativer Herkunft. In der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 über „Grundbegriffe der Metaphysik“ bezieht er sich auf Autoren wie Spengler, Klages und Leopold Ziegler und beschwört den Heroismus des verwegenen Daseins gegen die verachtete Normalität der bürgerlichen Misere: „Das Geheimnis fehlt in unserem Dasein, und damit bleibt der innere Schrecken aus, den jedes Geheimnis bei sich trägt und der dem Dasein seine Größe gibt.“ In den folgenden Jahren studiert Heidegger die Schriften von Ernst Jünger: Krieg und Krieger (1930) und Der Arbeiter (1932). Das Walten
des Geheimnisses
Der Prozeß der Verweltanschaulichung der Philosophie von Sein und Zeit erkärt sich aber nicht nur aus einem Krisenbewußtsein, das Heidegger für Nietzsches Metaphysikkritik empfänglich macht, das einer aus akademischen Fesseln befreiten Philosophie und ihrem Ort, der Universität, die Rolle des Retters in höchster Not suggeriert und der aufgeklaubten Zivilisationskritik Tür und Tor öffnet. Die einströmenden weltanschaulichen Motive treffen sich überdies mit einer Problemlage, die sich aus dem unvollendet gebliebenen Opus von Sein und Zeit selbst ergeben hatte.
Die Existenzialontologie war dem transzendentalen Ansatz noch so weit gefolgt, daß die von ihr freigelegten Strukturen dem Dasein überhaupt zugeschrieben werden mußten, also selber einen übergeschichtlichen Charakter behalten hatten. Den Anspruch auf eine radikale Verzeitlichung der metaphysischen Grundbegriffe hatte Heidegger damit nicht eingelöst. Zwei Arbeiten aus den Jahren 1930/31 (die allerdings nur in einer später überarbeiteten Fassung vorliegen), versuchen nun, jenen Anspruch einzulösen.
In den beiden Vorträgen „Vom Wesen der Wahrheit“ und „Platons Lehre von der Wahrheit“ verwandeln sich die Existentialien aus einer Grundverfassung des Daseins ins Resultat eines von weither kommenden Prozesses. Sie gehen aus einer idealistisch verhimmelten Geschichte hervor, die sich im Medium des Wandels metaphysischer Grundbegriffe hinter oder über der realen Geschichte vollzogen haben soll. Die Dialektik von Entbergung und Verbergung wird nun nicht mehr als das Ineinandergreifen von invarianten Seinsmöglichkeiten gedacht, die dem einzelnen die Perspektive des Eigentlichseins immerhin offenhält, sondern als eine Verfallsgeschichte, die mit Platons metaphysischem Denken anhebt und sich epochal an den „Menschentümern“ ereignet. (...)
Anfang der dreißiger Jahre fehlt nicht nur das Wort, sondern auch der Begriff der „Seinsgeschichte“. Was sich damals in der philosophischen Konzeption ändert, ist noch keineswegs die aktivistische Zumutung von Entschlossenheit und Entwurf; es ändert sich nur die Orientierung am Maßstab der Authentizität der verantwortlich übernommenen eigenen Lebensgeschichte. Liquidiert wird auch noch jenes kritische Moment von Sein und Zeit, das im individualistischen Erbe der Existenzphilosophie enthalten gewesen ist. Der Wahrheitsbegriff wird damals so umgeformt, daß die historische Herausforderung durch ein kollektives Schicksal gleichsam in Führung geht. Nun ist es ein „geschichtliches Menschentum“ und nicht mehr der einzelne, der ek-sistiert. Nicht wir als einzelne, sondern wir mit einem großen „W“ sehen uns „der Not der Nötigung“ und dem „Walten des Geheimnisses“ ausgesetzt. Dabei wird uns die Dezision keineswegs abgenommen: „Die Irre durchherrscht den Menschen. Als Beirrung schafft die Irre aber zugleich mit anderer Möglichkeit, die der Mensch aus der Ek-sistenz zu heben vermag, sich nicht beirren zu lassen, indem er die Irre selbst erfährt und sich nicht versieht am Geheimnis des Da-seins.“ Führer des
deutschen Schicksals
Nach 1929 vollzieht sich eine „Kehre“ vorerst allein in dem Sinne, daß Heidegger a) die Analytik des Daseins reflexiv zurückbezieht auf eine verfallsgeschichtlich gedeutete Bewegung des metaphysischen Denkens; daß er b) über diese gegenwartsbezogene Rekonstruktion die weltanschaulichen Motive einer wissenschaftlich ungefilterten Krisendiagnose einfließen läßt; und daß er c) die Dialektik von Wahrheit und Unwahrheit von der individuellen Sorge ums eigene Dasein entkoppelt und als ein Geschehen interpretiert, das zur entschlossenen Konfrontation mit einem je gemeinsamen historischen Schicksal herausfordert. Damit sind die Weichen für eine nationalrevolutionäre Deutung der in Sein und Zeit existential vorgezeichneten Selbstbesinnung und Selbstbehauptung gestellt. So kann sich Heidegger, der sich schon vor 1933 für die NSDAP entschieden hatte, die „Machtergreifung“ in den beibehaltenen Grundbegriffen seiner Daseinsanalyse zurechtlegen. Eins kommt hinzu: die nationalistische Auszeichnung des deutschen Schicksals, die Besetzung der kollektivistisch umgedeuteten Kategorie des „Daseins“ mit dem Dasein des deutschen Volkes und die Einführung der vermittelnden Figuren von „Führern und Hütern des deutschen Schicksals“, die die Not wenden und das Neue stiften werden, wenn sich nur die Gefolgschaft in Zucht nehmen läßt.
Die Führer sind nun die großen Schaffenden, die die Wahrheit ins Werk setzen. Aber das Führer-Gefolgschafts -Verhältnis konkretisiert nur die nach wie vor formale Entscheidung, „ob das ganze Volk sein eigenes Dasein will, oder ob es dieses nicht will“. In Heideggers Agitation für den Führer und „die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins“ ist die, allerdings obszön verfärbte Semantik von Sein und Zeit wiederzuerkennen. Beispielsweise in der Rede, die Heidegger auf der „Wahlkundgebung der deutschen Wissenschaft“ am 11. November 1933 in Leipzig hält: aus der „gleichgerichteten Gefolgschaft gegenüber der unbedingten Forderung der Selbstverantwortung erwächst erst die Möglichkeit, sich gegenseitig ernst zu nehmen, um damit auch schon eine Gemeinschaft zu bejahen (...) Was ist das also für ein Geschehen? Das Volk gewinnt die Wahrheit seines Daseinswillens zurück, denn Wahrheit ist die Offenbarkeit dessen, was ein Volk in seinem Handeln und Wissen sicher, hell und stark macht. Aus solcher Wahrheit entspringt das echte Wissenwollen (...).“
Vor diesem Hintergrund ergeben sich Rektoratsübernahme und Rektoratsrede nicht nur zwanglos, sondern zwangsläufig aus Heideggers Verabschiedung der akademischen, „dem boden- und machtlosen Denken dienstbaren“ Philosophie, aus seinem durchaus in der Mandarinentradition stehenden elitären Verständnis der deutschen Universität, aus einer hemmungslosen Fetischisierung des Geistes und der missionarischen Selbsteinschätzung, die die Rolle des eigenen Philosophierens nur noch in Zusammenhängen eines eschatologischen Weltgeschicks zu sehen erlaubte. Es ist wohl doch ein spezifisch deutscher Professorenwahnwitz, der Heidegger die Idee eingab, den Führer führen zu wollen. (...)
Planetarisches Verhängnis
Deutsche Sendung
Die Bewegung des philosophischen Gedankens Heideggers zwischen 1935 und 1945 stellt sich als Prozeß einer eigentümlich uneinsichtigen Enttäuschungsverarbeitung dar, der jene mit den Texten von 1930/31 eingeleitete „Kehre“ fortsetzt. (...)
a) Angeregt durch eine immer intensiver werdende Auseinandersetzung mit Nietzsche - der autoritativen Bezugsfigur auch der offiziellen NS-Philosophie -, erarbeitet sich Heidegger die Gesichtspunkte, unter denen die vollständige Verschmelzung einer schon früh ins Auge gefaßten „Destruktion der Metaphysik“ mit den bekannten Motiven seiner Zeitkritik gelingt. Das seinsvergessene, theoretisch vergegenständlichende Denken Platons versteift sich (über mehrere Etappen) in der Neuzeit zum Denken der Subjektivität. Die im einzelnen erhellenden Analysen dieses „vorstellenden“ Denkens zielen nun auf die Weltauslegung, aus deren Horizont die bestimmenden spirituellen Mächte der Moderne, Naturwissenschaft und Technik, hervorgehen. In dieser ontologischen Betrachtungsweise ist „Technik“ der Ausdruck für einen Willen zum Willen, der sich praktisch in den immer schon kritisierten Erscheinungen der positivistischen Wissenschaft, der technischen Entwicklung, der industriellen Arbeit, des bürokratisierten Staates, der mechanisierten Kriegführung, des Kulturbetriebs, der Diktatur der Öffentlichkeit, überhaupt der urbanisierten Massenzivilisation zur Geltung bringt. In diese Schablone des Massenzeitalters fügen sich alsbald die totalitären Züge der Politik, einschließlich der NS-Rassenpolitik, ein. Rassist war Heidegger wohl trotz seiner anhaltenden Beziehung zu einem der führenden NS-Rassentheoretiker nicht; sein Antisemitismus, für den es auch noch aus der Nachkriegszeit Zeugen gibt, war vom üblichen kulturellen Schlage. Wie dem auch sei, in den Jahren seit 1935 subsumiert Heidegger die politische und gesellschaftliche Praxis hastig unter einige stereotype Stichworte, ohne auch nur den Versuch einer differenzierenden Beschreibung, geschweige denn einer empirischen Analyse zu unternehmen. Die ontologisierende Rede von „der“ Technik als einem Geschick, das zugleich Geheimnis, Gewähr und Gefahr sein soll, greift pauschal mit starken Wesensbegriffen durchs vordergründig Ontische hindurch. Dem innovativen Blick auf die Geschichte der Metaphysik erschließen sich allerdings auch innerhalb dieses weltanschaulichen Gerüstes vernunftkritische Einsichten, die bis heute nicht überholt sind.
b) Der krude Nationalismus, dem Heidegger seit 1933 auch öffentlich anhängt, bleibt in den durch Hölderlin mehr oder weniger sublimierten Formen eine Invariante seines Denkens. Das Interpretationsschema liegt seit 1935 fest. In der Einleitung zur Metaphysik wird das Volk der Deutschen in der Nachfolge der Griechen als das metaphysische Volk ausgezeichnet, von dem allein eine Wendung des planetarischen Verhängnisses zu erwarten ist. In den Spuren einer längst ausgebildeten Ideologie vom „Land der Mitte“ bildet die geographische Mittellage den Schlüssel zur welthistorischen Bestimmung der Deutschen: „Die Bändigung der Gefahr der Weltverdüsterung“ erwartet Heidegger einzig vom „Übernehmen der geschichtlichen Sendung unseres Volkes der abendländischen Mitte“. So bringt Heidegger „die Frage nach dem Sein in den Zusammenhang mit dem Schicksal Europas, worin das Schicksal der Erde entschieden wird, wobei für Europa selbst unser geschichtliches Dasein sich als die Mitte erweist“. (...) Heidegger wiederholt seine Interpretation noch in der Parmenides-Vorlesung von 1942/43 und in der Heraklit-Vorlesung des Sommersemesters 1943, als er den Planeten schon „in Flammen stehen“, die „Welt aus den Fugen gehen“ sieht: „Nur von den Deutschen kann, gesetzt, daß sie 'das Deutsche‘ finden und wahren, die weltgeschichtliche Besinnung kommen.“
c)Nach dem Rücktritt vom Rektorat im April 1934 ist Heidegger enttäuscht. Er ist überzeugt, daß dieser historische Augenblick ihm und seiner Philosophie gleichsam zugedacht war; und er bleibt vom welthistorischen Gewicht und der metaphysischen Bedeutung des Nationalsozialismus überzeugt bis zum bitteren Ende. Noch im Sommer 1942 spricht er in einer Hölderlin-Vorlesung unmißverständlich von der „geschichtlichen Einzigkeit des Nationalsozialismus“. Dieser ist nämlich durch ein besonders intimes Verhältnis zum Nihilismus des Zeitalters gleichsam ausgezeichnet - und bleibt es auch dann noch, als Heidegger den seinsgeschichtlichen Stellenwert des Nationalsozialismus, wahrscheinlich erst unter der Wucht der Kriegsereignisse, anders einzuschätzen lernt.
Zunächst, 1935, verrät die Rede von der „inneren Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung eine Distanzierung von gewissen Erscheinungsformen und Praktiken, die mit dem Geist der Sache selbst nichts zu tun haben sollen. (...) Walter Bröcker, der damals die Vorlesung gehört hat, erinnert sich, daß Heidegger von der inneren Wahrheit und Größe „der“ und nicht, wie es im Text heißt, „dieser“ Bewegung gesprochen habe: „Und mit 'die Bewegung‘ bezeichneten die Nazis selbst, und nur sie den NS. Darum war mir Heideggers 'der‘ unvergeßlich.“ Wenn das zutrifft, kann 1935 die Identifikation noch nicht sehr gebrochen gewesen sein. (...) Zur Politik
der Seinsgeschichte
Ich weiß nicht genau, wann das nächste Stadium der Enttäuschungsverarbeitung einsetzt, vermutlich nach Kriegsbeginn, vielleicht erst nach der deprimierenden Erkenntnis der unaufhaltsamen Niederlage. In den Aufzeichnungen Zur Überwindung der Metaphysik (aus den Jahren seit 1936, vor allem aus der Kriegszeit) drängen sich Heidegger immer stärker die totalitären Züge eines Zeitalters auf, welches alle Kräftereserven rücksichtslos mobilisiert. Nun erst schlägt die messianische Aufbruchsstimmung von 1933 in eine apokalyptische Heilserwartung um: nur noch in der größten Not wächst das Rettende auch. Erst in der weltgeschichtlichen Katastrophe schlägt die Stunde der Überwindung der Metaphysik: „Erst nach diesem Untergang ereignet sich in langer Zeit die jähe Weile des Anfangs.“ Mit diesem Stimmungsumschwung verändert sich die Einschätzung des Nationalsozialismus ein weiteres Mal. Die Distanzierung nach 1934 hatte zu einer Differenzierung zwischen mißlichen Erscheinungsformen der nationalsozialistischen Praxis und ihrem wesentlichen Gehalt geführt. Jetzt nimmt Heidegger eine radikalere Umwertung vor, die die „innere Wahrheit“ der nationalsozialistischen Bewegung selbst betrifft. Er nimmt eine Umbesetzung in den seinsgeschichtlichen Rollen vor. Während bisher die nationale Revolution mit ihren Führern an der Spitze eine Gegenbewegung zum Nihilismus darstellte, meint Heidegger nun, daß sie ein besonders charakteristischer Ausdruck, also ein bloßes Symptom jenes verhängnisvollen Geschicks der Technik sei, dem sie doch einst entgegenwirken sollte. Die zur Signatur des Zeitalters gewordene Technik äußert sich in der totalitären „Kreisbewegung der Vernutzung um des Verbrauchs willen“. Und: “'Führernaturen‘ sind diejenigen, die sich aufgrund ihrer Instinktsicherheit von diesem Vorgang anstellen lassen als Steuerungsorgane. Sie sind die ersten Angestellten innerhalb des Geschäftsgangs der bedingungslosen Vernutzung des Seienden im Dienst der Sicherung der Leere der Seinsverlassenheit.“ Davon bleibt unberührt die nationalistische Auszeichnung der Deutschen als des „Menschentums“, das imstande ist, „den unbedingten Nihilismus geschichtlich zu verwirklichen“.(...)
Für den inneren Zusammenhang zwischen Heideggers politischem Engagement und Heideggers Philosophie scheint es mir von größter Bedeutung zu sein, daß allein die zögernde, im Vergleich mit anderen intellektuellen Vorreitern des Regimes erstaunlich verzögerte Ablösung von und Umwertung der nationalsozialistischen Bewegung die Revision herbeiführt, die jenes Konzept der Seinsgeschichte, mit dem Heidegger nach dem Krieg hervortritt, überhaupt erst begründet. Solange Heidegger sich einbilden konnte, daß die nationale Revolution mit dem Entwurf eines neuen deutschen Daseins auf die objektive Herausforderung der Technik eine Antwort finden würde, konnte die Dialektik von Anspruch und Entsprechung noch im Einklang mit dem aktivistischen Grundzug von Sein und Zeit, eben nationalrevolutionär gedacht werden. Erst nachdem Heidegger diese Hoffnung aufgegeben, den Faschismus und seine Führer zum Symptom der Krankheit, die sie einmal kurieren sollten, abwerten mußte erst nach diesem Einstellungswechsel erhält die Überwindung der neuzeitlichen Subjektivität die Bedeutung eines Geschehens, das nur zu erleiden ist. Bis dahin hatte der Dezisionismus des sich selbst behauptenden Daseins nicht nur in der existentialistischen Version von Sein und Zeit, sondern auch in der nationalrevolutionären Version der Schriften der dreißiger Jahre (mit gewissen Akzentverschiebungen) eine seinserschließende Funktion behalten. Erst in der letzten Phase der Enttäuschungsverarbeitung gewinnt das Konzept der Seinsgeschichte seine fatalistische Gestalt. Der Philosoph
wird seinsunmittelbar
Der seinsgeschichtliche Fatalismus hat beispielsweise 1943 im Nachwort zu Was ist Metaphysik? bereits klare Konturen gewonnen. Nach dem Ende des Krieges schlägt freilich die apokalyptisch verdüsterte Stimmung noch einmal um. Eine Apokalypse ist bestimmt durch die Erwartung der nahenden Katastrophe. Die war seit dem Einzug der französischen Truppen in Freiburg vorerst abgewendet, jedenfalls auf unabsehbare Zeit vertagt. Gesiegt hatten die wesensverwandten Mächte Amerika und Rußland, die sich in die Weltherrschaft teilen. Der Zweite Weltkrieg hatte in Heideggers Augen nichts Wesentliches entschieden. Deshalb richtete sich der Philosoph nach dem Krieg darauf ein, im Schatten eines unbewältigten Geschicks quietistisch auszuharren. 1945 blieb ihm nur noch der Rückzug von der enttäuschenden Weltgeschichte. Was aber bleibt, ist die Überzeugung, daß die Geschichte des Seins im Wort der wesentlichen Denker zur Sprache kommt - und daß dieses Denken vom Sein selbst ereignet wird. Heidegger hatte sein Denken über eineinhalb Jahrzehnte von den politischen Ereignissen in Atem halten lassen. Im Humanismus-Brief von 1946 resümiert sich diese Denkbewegung, aber doch nur in der Weise, daß sie gleichzeitig ihren politischen Entstehungskontext verwischt und sich - historisch ortlos geworden - aus allen Bezügen zur vordergründigen historischen Realität löst.
Im Brief über den Humanismus sind die Spuren des Nationalismus getilgt. Der Daseinsraum des Volkes sublimiert sich zur Heimat: „Dieses Wort wird hier in einem wesentlichen Sinne gedacht, nicht patriotisch, nicht nationalistisch, sondern seinsgeschichtlich.“ Die weltgeschichtliche Mission des Volkes im Herzen Europas bleibt nur noch auf grammatischer Ebene erhalten; sie lebt fort in der metaphysischen Auszeichnung der deutschen Sprache, in der Heidegger nach wie vor die einzige legitime Nachfolgerin des Griechischen sieht. (...) Auch das Zwischenreich der „Halbgötter“, der schöpferischen Führer, verschwindet spurlos. Die großen Schaffenden sublimieren sich zu Dichtern und Denkern; der Philosoph wird gleichsam seinsunmittelbar. Was einmal politische Gefolgschaft war, wird nun für alle zum Gehorsam gegenüber der Schickung des Seins generalisiert: „Nur solche Fügung vermag zu tragen und zu binden.“
Mit Hilfe einer Operation, die man „Abstraktion durch Verwesentlichung“ nennen könnte, gelingt so die Entkoppelung der Seinsgeschichte vom politisch-historischen Geschehen. Diese wiederum erlaubt eine bemerkenswerte Selbststilisierung der eigenen philosophischen Entwicklung. Heidegger betont von nun an die Kontinuität seiner Fragestellung und bemüht sich, das Konzept der Seinsgeschichte durch Rückprojektion auf das unvollendet gebliebene Werk Sein und Zeit von den verräterischen weltanschaulichen Elementen zu reinigen. Die angeblich schon 1930 vollzogene Kehre „ist nicht eine Änderung des Standpunktes von Sein und Zeit“. Abstraktion
durch Verwesentlichung
Heidegger behandelt das Thema des Humanismus zu einem Zeitpunkt, als die Bilder des Grauens, die sich den eintreffenden Alliierten in Auschwitz und anderswo dargeboten hatten, bis ins letzte deutsche Dorf gedrungen waren. Hätte die Rede vom „wesenhaften Geschehen“ überhaupt einen bestimmten Sinn gehabt, so hätte das singuläre Geschehen der Judenvernichtung die Aufmerksamkeit des Philosophen (wenn schon nicht des beteiligten Zeitgenossen) auf sich ziehen müssen. Aber Heidegger hält sich wie stets im Allgemeinen auf. Ihm geht es darum, daß der Mensch „der Nachbar des Seins“ ist - nicht der Nachbar des Menschen. Er wendet sich ungerührt gegen „die humanistischen Auslegungen des Menschen als animal rationale, als 'Person‘, als geistig -seelisch-leibliches Wesen“, weil „die höchsten humanistischen Bestimmungen des Wesens des Menschen die eigentliche Würde des Menschen noch nicht erfahren“. Der Humanismus-Brief erklärt auch, warum moralische Beurteilungen überhaupt unter dem Niveau des wesentlichen Denkens bleiben müssen. Schon Hölderlin hatte ja „das bloße Weltbürgertum Goethes“ hinter sich gelassen. Und Heideggers andächtig gewordenes Philosophieren greift erst recht durch „Ethik“ hindurch und deutet statt dessen das „Schickliche“: „Indem das Denken, geschichtlich andenkend, auf das Geschick des Seins achtet, hat es sich schon an das Schickliche gebunden, das dem Geschick gemäß ist.“ Bei diesem Satz muß dem Philosophen die Erinnerung an die „Unschicklichkeit“ der nationalsozialistischen Bewegung aufgestoßen sein; denn er fügt sogleich hinzu: „Sich in die Zwietracht wagen, um das Selbe zu sagen“ - das Sein ist immer nur es selbst - „ist die Gefahr. Die Zweideutigkeit droht und der bloße Zwist.“
Mehr hat Heidegger über seinen eigenen Irrtum nicht zu sagen. Das ist nicht einmal inkonsequent. Denn die Stellung alles wesentlichen Denkens zum Ereignis des Seins versetzt den Denker in die Irre. Er ist von aller persönlicher Verantwortung suspendiert, weil ihm der Irrtum selbst noch objektiv widerfährt. Nur einem Intellektuellen, einem unwesentlichen Denker, könnte ein Irrtum subjektiv zugerechnet werden. In dem „für sich bedeutungslosen Fall des Rektorats 1933/34“ sieht Heidegger denn auch nach dem Kriege nur „ein Anzeichen für den metaphysischen Wesenszustand der Wissenschaft“. Für „unfruchtbar“ hält er das „Wühlen in vergangenen Versuchen und Maßnahmen, die innerhalb der Gesamtbewegung des planetarischen Willens zur Macht so geringfügig sind, daß sie nicht einmal winzig genannt werden dürfen“. Universale Herrschaft
des Willens zur Macht
Einen Einblick in die retrospektive Einschätzung des eigenen Verhaltens gewähren die Tatsachen und Gedanken, die Heidegger 1945 notiert hat, und ein ebenfalls erst posthum veröffentlichtes Spiegel-Gespräch (Der Spiegel Nr.23, 1976, 193-219), worin er die Angaben von 1945 im wesentlichen wiederholt. Gerade unter der Prämisse einer objektiven Unverantwortlichkeit des wesentlichen Denkens und der moralischen Gleichgültigkeit persönlicher Verstrickungen muß der beschönigende Charakter dieser Selbstdarstellungen erstaunen. Statt nüchtern über die Fakten Rechenschaft zu geben, stellt sich Heidegger einen Persilschein aus. Schon die Rektoratsrede versteht er als „Opposition“, den unter spektakulären Umständen vollzogenen Parteieintritt als „Formsache“. Für die Jahre danach behauptet er, „daß die 1933 einsetzende Gegnerschaft sich durchhielt und verstärkte“. Totgeschwiegen im eigenen Land, sah er sich als Opfer eines „Kesseltreibens“. Zwar ist auch die Rede von einer während seines Rektorats stattfindenden „Säuberungsaktion“, „die oft über die Ziele und Schranken hinauszugehen drohte„; aber von „Schuld“ ist nur einmal die Rede, nämlich von der Schuld der anderen, „die damals schon so prophetisch begabt waren, daß sie alles kommen sahen“ und gleichwohl „fast zehn Jahre gewartet (haben), um gegen das Unheil anzugehen“. Im übrigen wehrt sich Heidegger dagegen, daß seinen militanten Worten von damals heute ein ganz falscher Sinn beigelegt werde: „Den 'Wehrdienst‘ aber habe ich weder in einem militaristischen, noch in einem aggressiven Sinne genannt, sondern als Wehr in der Notwehr gedacht.“ (...)
Auf die Frage, wie er sich zu den NS-Massenverbrechen stelle, hat Heidegger weder damals noch später eine Antwort gegeben. Wir dürfen mit guten Gründen vermuten, daß sie wiederum sehr allgemein ausgefallen wäre. Im Schatten der „universalen Herrschaft des Willens zur Macht innerhalb der planetarisch gesehenen Geschichte“ wird alles eins: „In dieser Wirklichkeit steht heute Alles, mag es Kommunismus heißen oder Faschismus oder Weltdemokratie.“ So hieß es 1945, und so wiederholte es Heidegger immer wieder: Abstraktion durch Verwesentlichung. Unter dem nivellierenden Blick des Seinsphilosophen erscheint auch die Judenvernichtung als ein beliebig auswechselbares Geschehen. Ob Vernichtung der Juden, ob Vertreibung der Deutschen eines ist wie das andere. (...)
Zwischen Werk und Person darf kein kurzschlüssiger Zusammenhang hergestellt werden. Heideggers philosophisches Werk verdankt, wie das anderer Philosophen, seine Autonomie der Kraft seiner Argumente. Dann kann freilich ein produktiver Anschluß auch nur gelingen, wenn man sich auf die Argumente einläßt - und diese aus ihrem weltanschaulichen Kontext heraushebt. Je tiefer die argumentative Substanz in Weltanschauung versinkt, um so größer ist die Anforderung an die kritische Kraft einer sichtenden Aneignung. Diese hermeneutische Selbstverständlichkeit verliert ihre Trivialität insbesondere dort, wo die rezipierenden Nachgeborenen mehr oder weniger in denselben Traditionen stehen, aus denen das Werk selbst seine Motive bezogen hat. In Deutschland kann deshalb die kritische Aneignung eines weltanschaulich infizierten Denkens nur gelingen, indem wir, die wir von Heidegger lernen, die internen Beziehungen zur Kenntnis nehmen, die zwischen Heideggers politischem Engagement und dem Wandel seiner Einstellung zum Faschismus einerseits, dem Argumentationspfad einer auch politisch motivierten Vernunftkritik andererseits bestehen.
Die entrüstete Tabuisierung dieser Fragestellung ist kontraproduktiv. Man muß sich dem Selbstverständnis, dem Gestus und dem Anspruch, den Heidegger mit seiner Rolle verknüpft, entzogen haben, bevor man zur Substanz der Sache vordringen kann. Eine abwehrende Einfriedung der Autorität des großen Denkers - nur wer groß denkt, kann groß irren - könnte lediglich dazu führen, daß die kritische Aneignung von Argumenten zugunsten der Einsozialisierung in ein ungeklärtes Sprachspiel vernachlässigt wird. Die Bedingungen, unter denen wir von Heidegger lernen können, sind inkompatibel mit einer in Deutschland tiefverwurzelten antiwestlichen Gesinnung. Mit ihr haben wir glücklicherweise nach 1945 gebrochen. Diese Gesinnung sollte auch nicht mit einem mimetisch anverwandelten Heidegger wiederaufleben. Ich meine vor allem Heideggers Geste, „daß es ein Denken gibt, das strenger ist als das begriffliche“. Mit dieser Geste verbindet sich erstens der Anspruch, daß einige Wenige einen privilegierten Zugang zur Wahrheit haben, über infallibles Wissen verfügen und sich der öffentlichen Argumentation entziehen dürfen. Mit dem autoritären Gestus verbinden sich zweitens Begriffe von Moral und Wahrheit, die das gültige Wissen von intersubjektiver Prüfung und Anerkennung abkoppeln. Mit ihm verbinden sich drittens die Loslösung des philosophischen Denkens vom egalitären Geschäft der Wissenschaft, die Entwurzelung des emphatisch Außeralltäglichen vom Erfahrungsboden der kommunikativen Alltagspraxis und die Zerstörung des gleichen Respekts für alle. (...)
Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Vorwort von Jürgen Habermas, S. Fischer Verlag, 440 Seiten, gebunden, 36 DM; Auslieferung am 13.Januar.
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