: VOM ERLEBNISRAUM ZUM MATERIALPOOL
■ „Der Zerfall des alten Raumes - Brüche in der Geschichte des Blicks“
Mit etwas wackeligen Beinen stapft man durch den Schaumgummi im Raum der „Feldstruktur“. Mit ähnlich leichter Unsicherheit läßt sich ahnen, was die Ausstellung über den „Zerfall des alten Raumes - Brüche in der Geschichte des Blicks“ erzählt. Das Erleben der inszenierten Räume mit Texten auf transparenten Fahnen, Filmen, Dias, Zitat -Collagen, mit Sternenhimmel, Eisenbahnfahrten, Magnetfeldern, Röntgenbildern, schwankenden Böden und wirbelnden Teilchen im Atom gleicht ein wenig der Erkenntnis im Halbschlaf, wenn man auf einmal höchst komplizierte Zusammenhänge elegant formulieren kann, die einem nur leider im allmählichen Wach- und Nüchtern-Werden wieder entgleiten und oft nur absurde Fragmente zurücklassen. So kann ich zum Beispiel hinterher nicht mehr zusammenbekommen, was die Ausrichtung der Wohnzimmermöbel auf den Fernseher mit dem veränderten Raumgefühl und politischen Bewußtsein der Hausbesetzer zu tun hat, auch wenn mir dies in der Ausstellung selbst noch schlüssig vorkam.
Das Werkbund-Archiv setzt sich in seiner Sonderausstellung anläßlich des diesjährigen „Schauplatz Museum“ mit der Geschichte der Wahrnehmung auseinander und markiert deren Veränderungen in drei historischen Epochen: im Umbruch vom Mittelalter zur Renaissance, im 19.Jahrhundert und in der Gegenwart. Als Indiz und augenfälliges Demonstrationsobjekt fungiert der Raum: Seine Darstellungen in der bildenden Kunst, seine wissenschaftlichen Definitionen und seine Gestaltung und Nutzung im Alltag belegen die Veränderung seiner Erfahrung. Dabei werden zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte, den Umbrüchen politischer Strukturen, den stilgeschichtlichen Wandlungen der Kunst und den neuen Erfahrungen der Sinne dichte Beziehungen, aber keine monokausalen Ketten gebildet. So wird zum Beispiel in dem Raum, der zeigt, wie der seit den ersten Anzeichen der Renaissance gültige Perspektivraum im 19.Jahrhundert fragwürdig zu werden beginnt, anhand von Bild- und Toncollagen aus historischem Material von Eisenbahnfahrten und dem fotografischen Blick erzählt. Den Rausch der ersten Eisenbahnfahrten, in denen das sinnliche Begreifen des durchreisten Raumes plötzlich verloren gegangen und unmöglich geworden zu sein schien, vermitteln Zitate und witzige Paraphrasen von Flaubert, Heine, Zola, Ruskin und dem Ziegenbäuerchen auf der schwäbischen Eisenbahn zu Bildern, die den Reiz und Schock des Eisenbahn-Motivs in der Landschafts- und Genremalerei belegen. Es entsteht der flüchtige Blick, das Verwischen der Landschaft.
Diese neue Wahrnehmung einer Szene verdeutlichen dann Interieur-Ansichten von Degas, in denen nur noch ein kleiner Fixpunkt im Bild scharf gesehen zu sein scheint, während der übrige Raum mehr atmospährisch verschwimmt. Der Perspektivpunkt, der zwar noch immer vorhanden ist, hat als Direktor des Blicks und der Bildbetrachtung seine Funktion verloren. Es folgt die Faszination des durch Apparate unterstützten Blicks, dem sich Räume öffnen, die dem unbewaffneten Auge verwehrt waren: Muybridges Fotografie, die Bewegung in ihre Phasen zerlegen läßt, Mikroskopie, Teleskopie und der unheimliche Röntgenblick in das Innere des Körpers.
So arbeitet die Ausstellung, durch Geldmangel auf Reproduktionen beschränkt, dennoch sehr anschaulich. Man braucht natürlich Zeit und Lust zum Sehen, Hören, Lesen; sonst bleiben die Inszenierungen ein abstruses Sammelsurium von Apparaten, Modellen und Mobiles.
Die „Vernetzung“ - Stolz und Lieblingswort des Werkbund -Archivs - von Naturwissenschaft, Alltagskultur, Ästhetik und - etwas wagemutig und nur gelegentlich aufblitzend politischem Bewußtsein zur Grundlage musealer Vermittlung zu machen, gelingt der Ausstellung (und besser noch dem Katalog), auch wenn einige Teile sehr weit abheben. Neben Aha-Erlebnissen beschert die Ausstellung auch Rätsel, zum Beispiel einen Teich mit Begriffen wie „Einwohnermeldeamt“ oder „Nomenklatura“. Doch kann man in diesem poetisch -philosophischen Materialpool an vielen Punkten beginnen, Bröckchen, Bilder, Geschichten nach eigenem Interesse herauszufischen und zu einem eigenen Gedankennetz zusammenzufummeln.
Katrin Bettina Müller
„Der Zerfall des alten Raumes - Brüche in der Geschichte des Blicks“, veranstaltet vom Werkbund-Archiv, NGBK und Museumspädagogischem Dienst. Im Werkbund-Archiv bis zum 31.März, Di-So 10-22 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen