Totgesagte leben länger

■ Zwei Aufsatzsammlungen zum „Tod des Subjekts“

Wie ist das moderne Subjekt überhaupt bestimmt, das nun vorgeblich postmodern dahinsiecht? Wolfgang Hübener zeigt in seinem Aufsatz (in dem von Manfred Frank und anderen herausgegebenen Band), daß gerade bei denen, die man als „Väter“ eines selbstmächtigen, autonomen Subjekts bezeichnet (beispielsweise Descartes, Hegel, Kant), die Dinge so einfach nicht liegen. Zumal Descartes‘ ego cogito sei „alles andere als ein von sich selbst her seiendes, ruhendes Subjekt„; die Selbstgewißheit des „Ich denke, also bin ich“ ist nur momenthaft. Das denkende Ich wandelt sich in der Zeit, gleichsam von Gedanke zu Gedanke und bleibt eben nicht mit sich selbst identisch.

Jacob Rogozinski (im Oldenbourg-Band) unterstreicht ebenfalls diese „innere Schwäche des Cogito, das von einer unendlichen zeitlichen Streuung bedroht ist“. Auch für Hegel, so Jochen Hörisch (Suhrkamp), ist Subjektivität „durch und durch unrein“ und kann nicht als „das gegenständliche fixe Selbst“ gelten; als erkenntnistheoretisches wird das Subjekt durch die Bewegung des Begriffs gleichsam verflüssigt, als sittliches oder moralisches kann es erst im Staat zu sich selbst kommen. Friedrich A.Kittler (Suhrkamp) hingegen kommt anhand einer brillanten Analyse des Schulwesens im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts zu dem Schluß, daß erst durch die staatliche Einflußnahme auf den Schul- und Lehrbetrieb Subjekte entstehen können: „Bildungsbürger als Produkte eines neuerlich staatlichen Schulwesens sind demnach Subjekt im Wortsinn“: „das Subjekt als Beamter“.

Vielleicht geht aus diesen kurzen (und ungenügenden) Andeutungen hervor, was die Crux beim Streit ums Subjekt ist: wie Bernhard Waldenfels (Oldenbourg) schreibt, wäre die Frage „leicht zu entscheiden, wenn die einen genau das verwerfen würden, was die anderen verteidigen, doch ein solcher Bilderbuchstreit ist überhaupt selten“. Und so kommt es darauf an, etwas wie einen Minimalkonsens zwischen Verfechtern und Verächtern des Subjekts zu finden. Den scheint Herta Nagl-Docekal (Suhrkamp) richtig zu benennen: „Die 'absoluten‘ Subjektbegriffe sind in der Tat für jede ernsthafte Theoriebildung der Gegenwart unakzeptabel geworden; sie sind tot.“ Vieles spricht dafür, daß es einen solchen absoluten und einheitlichen Subjektbegriff nicht einmal bei den „Klassikern der Moderne“ gegeben hat. Entscheidend aber ist die Frage, ob auch auf eine Konzeption von Subjektivität verzichtet werden kann, die das Subjekt weder als gänzlich autonom, herrscherlich und selbstmächtig, noch auch als völlig heteronom, unterworfen und ohnmächtig begreift.

Jean-Fran?ois Lyotard (dessen Aufsatz in beiden Bänden abgedruckt ist) tut dies offenkundig; für ihn sind die Menschen der Sprache, besser: den Diskursgattungen vollständig unterworfen. Die Menschen, schreibt er, „haben keine andere 'Identität‘ als jene, die ihnen durch die Situation, die ihnen im Universum der Sätze geschaffen wurde, zugewiesen ist.“ Und in seinem Hauptwerk „Der Widerstreit“ heißt es: „Wir glauben, daß wir überreden, verführen, überzeugen, gerecht sein, glauben machen, Fragen veranlassen wollen - doch zwingt nur eine dialektische, erotische, didaktische, ethische, rhetorische, 'ironische‘ Diskursart 'unserem‘ Satz und 'uns‘ selbst ihren ... Modus auf.“ Die Sprache spricht also uns, und nicht wir die Sprache; die Diskurse sind in Wahrheit die Subjekte unserer Aussagen, und nicht wir. Tatsächlich geht Lyotard am weitesten, was die Entsubjektivierung des Menschen betrifft; ob er damit den Subjekt-Begriff überhaupt los wird, bleibt indes fraglich.

So bezeichnet etwa Manfred Frank (auch sein Aufsatz in beiden Bänden) Lyotards Denkfigur einer sich selbst (durch den Menschen) sprechenden Sprache als klassischen Fall der „Wiederkehr des Verdrängten“: wird Subjektivität der Subjektstelle (dem Menschen, dem Individuum) völlig ausgetrieben, taucht sie hinterrücks an der Objektstelle (in der Sprache, den Diskursen, der Struktur etc.) wieder auf. Bei Lyotard wird so die Sprache zum absoluten Subjekt. Dagegen versucht Frank einen Begriff von Subjektivität stark zu machen, der in dem schon angedeuteten „Zwischenreich“ angesiedelt ist. Individuen, so Frank, sind keineswegs immer sich selbst gleich und identisch; sie unterliegen zeitlichem Wandel und interpretieren sich selbst im Laufe ihres Lebens je unterschiedlich. Aber sie können sich zu sich verhalten, sie haben Bewußtsein von sich selbst und von dem, was sie sagen und tun; sie sind also auch nicht mit der Struktur, der Sprache etc. gleich und identisch. Sie können Sprache und Strukturen reflektieren, sie können alte „Spielregeln“ willentlich verletzen und neue erfinden. Subjekte sind zugleich unterworfen und frei, fremdbestimmt und eigenbestimmt, unbewußt und bewußt - wenigstens der Möglichkeit nach. Auch Jochen Hörisch ist der Ansicht, daß es „analytisch produktiv (ist), ... vom Phänomen gedoppelter Subjektivität auszugehen: sie zugleich als Element einer ihr in jeder Weise vorausgehenden Struktur und als in jedem Wortsinn selbstbewußter und ereignishafter Schauplatz eben dieser Struktur zu begreifen.“

Welche Zwischenbilanz kann man aus dem Streit um den „Tod des Subjekts“ nun ziehen? Zum einen kann wohl ernsthaft niemand behaupten, Subjekte seien stets mit sich identisch und gestalteten die Welt rein aus sich selbst heraus; zum anderen scheint sich die Position, Subjekte seien pure Strukturreflexe und wie in einem komplexen Netz festgezurrte Knoten, widerspruchsfrei nicht halten zu lassen. Der Streit ums Subjekt ist damit längst nicht ausgefochten; vielmehr wird er differenzierter und diffiziler und geht damit erst richtig los.

Matthias Rüb

Manfred Frank/ Gerard Raulet/Willem van Reijen (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjekt; Suhrkamp-Verlag (es 1430), Frankfurt 1988, 435 Seiten, 22 Mark

Herta Nagl-Docekal/ Helmuth Vetter (Hrsg.), Tod des Subjekts?, Oldenbourg (Wiener Reihe Bd. 2), Wien/München 1987, 234 Seiten, 38 Mark