: Gorbatschows Erbe
■ Gorbatschow beklagt Defizit im sowjetischen Staatshaushalt / Reaktor- und Erdbebenkatastrophe sowie Afghanistankrieg vergrößerten die Misere
Moskau (dpa/ap) - Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hat das Defizit im sowjetischen Staatshaushalt als „schwerstes Erbe“ bezeichnet, „das wir aus der Vergangenheit übernommen haben“. Dieses Defizit sei früher vor der Öffentlichkeit vertuscht worden, sagte der Kremlführer in einer Rede vor sowjetischen Wissenschaftlern und Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben. 'Tass‘ veröffentlichte die am Freitag gehaltene Rede Gorbatschows erst in der Nacht zum Sonntag.
Die Existenz des Defizits war im Herbst erstmals öffentlich eingestanden worden. Vorher hatte die sowjetische Führung der Öffentlichkeit Jahr für Jahr angeblich erwirtschaftete Überschüsse in Höhe von Milliarden Rubel vorgerechnet. Im Oktober verabschiedete der Oberste Sowjet den Staatshaushalt für 1989, in dem ein Fehlbetrag von 34 Millionen Rubel eingeplant ist. Am 1.November gab Finanzminister Boris Gostew bekannt, daß seit zehn Jahren rote Zahlen „in kritischer Höhe“ geschrieben würden. Er schätzte, daß man mit einem Etatdefizit von 37 Milliarden Rubel aus der 1985 beendeten Fünfjahresplanperiode herausgegangen sei.
Gorbatschow führte am Freitag aus, die Misere bei den Staatsfinanzen werde durch die Folgen der Katastrophe in dem Kernkraftwerk von Tschernobyl in der Ukraine im April 1986 und die Erdbebenkatatstrophe im Dezember letzten Jahres in der Sowjetrepublik Armenien sowie durch das jahrelange militärische Engagement der Sowjetunion im Afghanistankrieg noch vergrößert. Er gab aber auch an, im vergangenen Jahr habe sich das Wirtschaftsergebnis gebessert.
Zu den von 'Tass‘ genannten Teilnehmern des Gesprächs am Freitag gehörten progressive und konservative Persönlichkeiten. Der Chefredakteur der offiziellen kommunistischen Jugendzeitung 'Komsomolskaja Prawda‘, Anatoli Iwanow, und der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der Russischen Föderation, Sergej Michalkow, beispielsweise sind mit herber Kritik an Perestroika-Vorreitern wie den Zeitschriften 'Ogonjok‘ und 'Moscow News‘ hervorgetreten. Der 'Snamja'-Chefredakteur Baklanow und der Schauspieler Uljanow andererseits hatten in einem offenen Brief an Gorbatschow beklagt, die Perestroika werde durch eine „Diktatur der Mittelmäßigkeit“ gehemmt.
Gorbatschow wies den Wissenschaftlern und sonstigen Intellektuellen die Aufgabe zu, bei der Beseitigung der Feindschaft zwischen einzelnen Völkern der UdSSR und des Nationalismus mitzuwirken, wobei er sich offenbar auf den Konflikt zwischen Aserbeidschanern und Armeniern sowie auf die Autonomiebestrebungen in den baltischen Republiken bezog. Er wandte sich gegen alles, was dazu führe, Nationen und Völker gegeneinander aufzubringen und nationalistische Gefühle anzustacheln.
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