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Von wegen „Puddingabitur“

■ Untersuchungen über schulische Leistungen an Jungen- und Mädchenschulen sowie an koedukativen Schulen geben der Debatte um Sinn und Zweck der Koedukation aus feministischer Sicht neuen Auftrieb / Ein Plädoyer für den Erhalt bestehender Mädchenschulen und Aufbau feministischer Mädchenschulen

Puddingabitur“ war die übliche Bezeichnung für die allgemeine Hochschulreife, die an einem Mädchengymnasium erworben wurde. Denn wo keine Jungen sind, denen qua Geschlecht höhere intellektuelle Leistungen zugeschrieben werden, sinkt das allgemeine Niveau. So wurde denn der Schritt hin zur Koedukation, also zur gemeinsamen Unterrichtung von Jungen und Mädchen, bislang als Bedingung für Gleichberechtigung im Bildungswesen angesehen. Denn wo Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden, die gleichen Lehrinhalte vermittelt bekommen, da entscheidet nur noch Leistung oder individuelle Neigung über Erfolg oder Mißerfolg.

Daß dem nicht so ist, das zeigen inzwischen wissenschaftliche Untersuchungen von feministischen Schulforscherinnen. Bereits vor zirka drei Jahren eröffnete die pädagogische Fachzeitschrift 'Frauen und Schule‘ die Debatte um Sinn und Zweck der Koedukation aus feministischer Sicht. Sie rührte damit offensichtlich an ein Tabu, denn es wurde den Koedukationskritikerinnen plump unterstellt, sie würden für nichts anderes eintreten als für das traditionelle, meist konfessionell gebundene Mädchengymnasium für mehr oder weniger behütete Töchter. Daß feministische Kritik an scheinbar fortschrittlichen Errungenschaften - in diesem Fall an der Koedukation - nicht selten als reaktionär diffamiert wird, ist spätestens seit der Pornographiedebatte bekannt.

Wie sieht die Realität in koedukativen Schulklassen aus? Als erstes fällt auf, daß Mädchen nach wie vor weitaus seltener als Jungen Mathematik oder naturwissenschaftliche Fächer als Leistungs- oder Wahlkurse belegen. An den Hochschulen sind es dann nochmal viel weniger Frauen als Männer, die ein solches Fach wählen. Auffallend ist jedoch, daß von denjenigen Frauen, die ein natur- oder ingenieurwissenschaftliches Studium ergreifen, überproportional viele von Mädchenschulen kommen. Dies geht unter anderem aus einer Studie über Chemie- und Informatikstudentinnen in Nordrhein-Westfalen hervor.

Untersuchungen über schulische Leistungen an Jungen- und Mädchenschulen sowie an gemischten Schulen in Großbritannien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die Schülerinnen an Mädchenschulen erbringen bessere Leistungen als an gemischten Schulen, während das Ergebnis bei Jungen umgekehrt ist: Sie profitieren offensichtlich von der Koedukation, denn ihre Leistungen sind in gemischten Klassen deutlich besser als in geschlechtergetrennten Klassen. Ähnliche Erfahrungen sind hierzulande mit der Einrichtung von geschlechtergetrennten Computerkursen an Schulen gemacht worden. Der koedukative Unterricht scheint sowohl die Mädchen wie die Jungen in ihrem Rollenverhalten zu bestärken. Dies gilt auch für die LehrerInnen in bezug auf ihre geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen.

Claudia Fuchs, feministische Linguistin, und Uta Enders -Dragässer, Schulforscherin, haben in ihrer Interaktionsstudie an hessischen Schulen nachgewiesen, daß in koedukativen Schulen Mädchen weitaus mehr als Jungen zu sozialem, rücksichtsvollem und kooperativem, aber auch angepaßtem Verhalten angehalten werden. Sie werden auch eher für ihr Verhalten gelobt als für ihre intellektuellen Leistungen. Bei Jungen ist es umgekehrt. Die von Claudia Fuchs und Uta Enders-Dragässer gemachten Video -Aufzeichnungen von Unterrichtssituationen machten deutlich, daß Jungen durch aggressives und dominantes Verhalten sowohl das Unterrichtsgeschehen als auch die sozialen Interaktionen bestimmen und zwei Drittel der Aufmerksamkeit von seiten der LehrerInnen für sich in Anspruch nehmen können.

Daran ändert sich auch dann nur unwesentlich etwas, wenn wie in einem Versuch geschehen - sich die LehrerInnen bewußt bemühen, den Mädchen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Das Ergebnis ist erstaunlich: An der Zweidrittel-Verteilung hatte sich kaum etwas geändert, wohl aber an der subjektiven Wahrnehmung der LehrerInnen und der Jungen. Beide LehrerInnen und Jungen - glaubten, den Mädchen wäre weitaus mehr als die Hälfte der Aufmerksamkeit zugekommen. Die Störungen und Aggressionen der Jungen - gerade von linken Pädagogen oft als gesunder Widerspruchsgeist interpretiert richten sich aber in Wirklichkeit vielmehr als bisher angenommen direkt gegen die Mädchen und auch speziell gegen Lehrerinnen. Sexuelle Beleidigungen bis hin zu Gewaltanwendungen sind keine Seltenheit.

Die Nachteile für Mädchen, die sich aus der koedukativen Schulform ergeben, liegen auf der Hand. Feministische Schulforscherinnen weisen aber auch darauf hin, daß durch die sexistische schulische Sozialisation Defizite in der Persönlichkeit der Jungen entstehen. Bei ihnen wird konkurrierendes statt kooperatives Verhalten gefördert und Mackertum wird augenzwinkernd oder resigniert von den LehrerInnen geduldet. Aber unter den Auswirkungen haben nicht nur die Jungen selbst zu leiden, wenn sie den auf sie projizierten Rollenzuschreibungen nicht entsprechen können oder wollen, sondern in erster Linie die Mädchen und Frauen. Eine feministische Pädagogik bezieht sich darum - im Interesse der Mädchen - auch auf Jungen.

In der Institution Schule herrschen - genau wie in allen anderen gesellschaftlichen Räumen - männliche Normen. Die Mädchen sind bei Einführung der Koedukation dieser Männerwelt nur zugefügt worden. Fuchs und Enders-Dragässer sprechen darum nur von einer formalen, nicht aber von einer inhaltlichen Koedukation. Um diese zu erreichen, fordern feministische Schulkritikerinnen einschneidende Änderungen im bestehenden Schulsystem. Dazu gehören die kritische Problematisierung der Koedukation in der LehrerInnenaus- und -fortbildung, eine feministisch orientierte Supervision, die Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien unter feministischen Gesichtspunkten sowie ein zeitweilig geschlechtergetrennter Unterricht in bestimmten Fächern. Dies gilt besonders für Mathematik, Naturwissenschaften und Sport. Geschichte und Inhalte der Frauenbewegung sollen ebenso Unterrichtsgegenstand sein wie die Leistungen und Erfindungen von Frauen in Geschichte, Wissenschaft und Kultur.

Feministische Pädagoginnen fordern aber auch den Erhalt bestehender Mädchenschulen und die Errichtung neuer feministischer Mädchenschulen.1 Diese sind nicht als Schonraum gedacht, sondern als Freiraum, in dem Mädchen frei von geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen ihre Interessen entfalten können. Die Beobachtung an koedukativen Schulen hat gezeigt, daß gerade leistungsstarke Mädchen Schwierigkeiten damit haben, ihre intellektuellen Fähigkeiten in Einklang mit ihrem weiblichen Selbstbild zu bringen. Die gesellschaftliche, und das heißt patriarchalische Erwartung, daß ein Mädchen oder eine Frau in erster Linie für Männer attraktiv zu sein hat, sitzt tiefer, als wir es uns vielleicht wünschen.

Mädchen müssen die Erfahrung machen können, daß sie als Mädchen und nicht als geschlechtsneutrale Wesen kreative und intellektuelle Leistungen erbringen können und dafür Anerkennung bekommen. Zur Entwicklung solch eines Weiblichkeitsbildes - frei von männlichen Erwartungen und Vorstellungen - wäre eine feministische Mädchenschule sicherlich nicht der schlechteste Ort.

1 Bis jetzt gibt es zwei Initiativgruppen zur Gründung feministischer Mädchenschulen, und zwar in Hamburg und Berlin. Nähere Informationen sind über die Zeitschrift 'Frauen und Schule‘, Dieffenbachstraße 27, 1000 Berlin 61, zu erhalten.

Johanna Kratz

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