: Das authentische Zeugnis
■ Viermal „SED-FDJ“ rufen oder: das Spickzettelchen eines Funktionärs
Politspektakel wolen inszeniert sein, auf der Rosa -Luxemburg-Karl-Liebknecht-Gedenkdemonstration in Leipzig ging allerdings nicht alles seinen sozialistischen Gang. Damit wenigstens den Funktionären keine Pannen unterlaufen, müssen sie sich hin und wieder schon mit Spickzetteln aushelfen. Der folgende Zettel wurde vor einem Jahr in Leipzig zufällig gefunden und veranlaßte einen unbekannten Schreiber der Leipziger Samisdat-Zeitschrift 'Glasnost‘ zu einigen Anmerkungen. (d. Red.)
1. SED-FDJ4 x rufen
2. DDR - unser Vaterland3 x rufen
3. Wir wollen Frieden4 x rufen
4. Frieden - Freundschaft - Solidarität3 x rufen
5. Hoch die internationale Solidarität3 x rufen
Wir alle hatten es schon gewußt und erhalten jetzt den eigentlich unnötigen Beweis dafür, daß hinter den uns so teuren Spontanitätsausbrüchen beliebiger Demonstranten ein Geist waltet. Dieser schmale Zettel wurde zerknüllt aufgefunden, fast wie achtlos weggeworfen oder aus anderen Gründen vergesssen. Und so bewegt uns alle die Frage, wie dieser Zettel dahin gelangen konnte, welche Umstände dahinter stecken könnten und, vor allem, wer der Überbringer dieser zweifellos bedeutenden Mitteilung war.
Zu welcher Eile mußte jener Funktionär genötigt gewesen sein, wenn wir uns vorstellen, daß der Adressat schon mit Fotos, Plakaten und Transparenten versehen bei dem ungeduldig wartenden Demonstrationsstrom stand, gänzlich uninformiert darüber, mit welchen Sprüchen den Gefühlen Ausdruck zu geben sei; in welchen Metaphern die Dankbarkeit des Volkes zu kleiden ist. Irgendein Zwischenfall mußte die reibungslose rechtzeitige Übermittlung verhindert haben, oder Vergeßlichkeit; denn sonst wäre diese Nachricht durch dienstliche Leitungen geflossen und nie in unsere Hände geraten. Also eilte jener verantwortungsvolle Funktionär, ganz in dem trauernden Bewußtsein, daß es nur von ihm abhängt, ob der Umzug gelingt, in der Angst, daß sich das Volk in seiner nicht-kanalisierten Emotionalität zu anderen Metaphern hingerissen fühlt, die dem Anlaß nicht so direkt entsprechen würden.
Und wenn wir uns den traurigen Funktionär nun vorstellen, wie er zur Telefonzelle eilt, in seinen Händen die Lösung aller Probleme von Marsch und Karriere; wer wollte es ihm verübeln, daß er in den fünf Ausbrüchen den Sinn des Marsches, der Marschierenden, den Sinn seines Eilens und Seins sieht und daher, nachdem er die Botschaft übermittelt hatte, von Glück überströmt, alle Pflichten der Ordnung vergaß, geistesabwesend den Zettel zerknüllte, sich damit vielleicht die schwitzende Stirn wischte, und einfach so liegen ließ?
Niemand, nein niemand, würde es ihm verdenken. Er hatte es geschafft; alles ging noch einmal gut! Und so dürfen wir auch weiterhin die fünf Parolen auf solchen Veranstaltungen antreffen, wiederum ihre Poesie einsaugen, herauspumpen und ihre eigentümliche Schönheit, die sich einmal sogar noch eines Subjekts und Prädikats bedient, zu ergründen suchen: das Schwanken, ob es bloße Chiffren, gehalts- und subjektlos wortgewordene Identifikationsmuster sind; oder nicht eine unschuldig verschwiegene andere Dimension noch mitschwingt ein regelrechtes Bangen, aus dem wir genialer Weise nicht erlöst werden; müssen wir es doch erst gespürt haben, daß es nicht mehr bloß Zustimmung ist, was wir rufen, sondern wir es sind. Wir sind es, und wir bringen das dem Bewußtsein zu Unbequeme aus der Tiefe unserer Seele herauf, um uns das Es wie einen Spiegel vorzuhalten, wie das Skelett all unserer Sehnsüchte, reduziert auf das Verrechenbare, das Allgemeine, das Wesenlose; im Es haben wir uns selbst überwunden, unser Selbst- und Anderssein, unseren Widerstand gegen die Einheit. Im Es sind wir frei von uns geworden.
Hier erlaube ich mir im Namen aller Leser, wie ich hoffe, einen Dank an die Unachtsamkeit jenes Funktionärs auszusprechen, an den Rest seines Menschseins als ein noch nicht selbstloses, der ihn mit uns verbindet und diesen Beweis der Gnade und des Verständnisses der Organe für unsere Sehnsucht nach der Poesie des Wesenlosen in der Telefonzelle für die Nachwelt liegen ließ.
So schließe ich denn im Sinne unseres Zeugnisses mit einer neuen Parole: Es lebe das Bangen um den Gehalt der Worte unsere subjektlose Poesie! Weiter auf den Weg der Abkürzungsmystik - vorwärts zur wesenlosen Einheit!
Aus: 'Glasnost‘, Samisdat-Zeitung, Leipzig/DDR
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