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Ein Rätesystem und Gaddafis government-by-television

■ In Libyens Volkskongressen findet derzeit ein Machtkampf statt / Es geht um mehr Bürgerrechte / Wird die Macht der Geheimdienste beschränkt?

Rund 150 Männer, zum Teil in westlich-modernem Outfit, zum Teil in den traditionellen Burnus gewickelt, hocken in der schon etwas abgeblätterten Turnhalle des Quartiers Gar Garsch, das zum Stadtteil Hay El Andulus in Tripolis gehört. Direkte Demokratie nach libyschem Modell ist angesagt: Sie haben sich zum lokalen Basisvolkskongreß zusammengefunden, wie schon vor ihnen die Frauen des Viertels.

Die langatmigen Ausführungen des sechsköpfigen Volkskomitees auf dem Podium werden immer wieder von lebhaften Zwischenrufen und Beiträgen der Versammlungsteilnehmer unterbrochen, denen ein Saalmikrophon zur Verfügung steht. Die Debatte dreht sich um ein neues Paßgesetz, das mehr Reisefreiheit bringen soll, sowie um die Unverletzlichkeit der privaten Wohnung. Als Beifall aufkommt, übersetzt unser Betreuer, der Sekretär des Volkskomitees habe gerade bekanntgegeben, daß die geheimen „Schwarzen Listen“ der Sicherheitsdienste mit den Namen konterrevolutionärer Elemente jetzt endgültig vernichtet würden.

Die Volkskongresse, unterste organisatorische Ebene der „unmittelbaren Volksmacht“, einer Art spezifisch libyschen Rätesystems, tagen seit letzter Woche allabendlich gleichzeitig im ganzen Land. Auf der Tagesordnung steht die Umsetzung der „Charta der Menschenrechte“, welche der Generalkongreß im vergangenen Sommer verabschiedete.

Zwei innenpolitische Strömungen liegen miteinander heftig im Clinch: einerseits Pragmatiker in den Ministerien, die durch die Zulassung des privaten Kleinhandels, die Aufhebung der Importverbote und die einseitige Öffnung der Grenze zum benachbarten Tunesien seit etwa Herbst 1987 eine immer bessere Versorgung mit Lebensmitteln und Waren ermöglichten. Die Versorgungskrise, die 1986 ihren Höhepunkt fand, ist überwunden: Vor den unzähligen kleinen privaten Läden, die die staatlich verwalteten „Volksmärkte“ abgelöst haben, baumeln ganze Hammelhälften und Hühner, stapeln sich bunte Kisten und Körbe mit Gemüse und Früchten.

Dieser wirtschaftlichen Liberalisierung steht ein im institutionellen Machtgefüge schwer zu lokalisierendes revolutionäres Milieu gegenüber. Personell wird es von ideologisierten Alt-Studenten getragen und rekrutiert sich aus den Anfang der 80er Jahre von militanten Gaddafianhängern gebildeten Revolutionskomitees.

Konzipiert als pressure-groups, als „Wächter über die Ideen der Revolution“, sollten sie die trägen Volkskomitees ideologisch auf Vordermann bringen, entgleisten aber bald zu einem eigenen Machtapparat, parallel zu den allgemeinen Volkskomitees und den Ministerien. Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung 1984/85 verfügten die Revolutionskomitees gar über geheimpolizeiliche Befugnisse.

Zwischen Pragmatikern und revolutionärem Milieu tobt ein nur schwer durchschaubarer Machtkampf. Von offiziellen Gesprächspartnern ist kaum herauszufinden, ob sie der „Mathaba“, der Zentrale der Revolutions-Komitees, oder einem Ministerium angehören. Über beiden Strömungen schwebt gleich einem Phantom Revolutionsführer Gaddafi - eine unangreifbare quasi-religiöse Oberinstanz.

Im Nebel bleibt, welchen Flügel Gaddafi mit seinen Vorstößen forciert. Ebenso, welcher Strömung seine jüngste Ankündigung im Fernsehen das Wasser abgraben soll: der staatliche Geheimdienst (was wohl heißen müßte: die diversen Geheim- und Sicherheitsdienste) und die staatliche Nachrichtenagentur 'Jana‘ würden noch im Laufe dieses Jahres abgeschafft, um die „wahre Volksmacht“ unmittelbar zum Tragen zu bringen. Nicht unmöglich ist, daß der Chef mit seinen jüngsten verbal-revolutionären Äußerungen gerade dem revolutionären Milieu den Boden (in diesem Fall das dubiose Geheimdienstgeflecht) entziehen will.

Daß Gaddafi ausgerechnet auch der staatlichen Nachrichtenagentur 'Jana‘ („riesiger Krake“) den Hahn zudrehen will, scheint besonders widersprüchlich: Als Revolutionsführer, der offiziell keinerlei staatliche Ämter bekleidet, regiert Gaddafi de facto ausschließlich via TV -Bildschirm. Die Libyer haben ihren - derzeit meist müde und abgespannt wirkenden - Chef täglich stundenlang im Bild. Seine Äußerung, wonach „der Kampf um die Macht zu einem Ende kommen muß“, bestärkt jedenfalls den Eindruck, daß derzeit ein innenpolitischer Machtkampf vor der Entscheidung steht.

Die Vorhersage des griechischen Gelehrten Herodot wird wohl noch eine Weile Gültigkeit behalten. Der notierte schon im 5.Jahrhundert vor Christus: „Aus Libyen kommt immer was Neues.“

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