Das Militärische hat ausgedient

■ Heinrich Lummer hat ein bemerkenswertes Papier zur Deutschland- und Europapolitik verfaßt. Zieht er jetzt mit Gorbatschow an einem Strang? / Wir befragten ihn dazu und zu Honeckers jüngster Abrüstungsinitiative

taz: Herr Lummer, Ihr Papier zu Deutschland und Europa, zu Perspektiven der EG und der möglichen Aufnahme ost- und mitteleuropäischer Länder liest sich so, als würden Sie jetzt zusammen mit Gorbatschow am Haus Europa bauen. Sie halten allerdings am „ganzen Deutschland“ und der „Wiedervereinigung“ fest. Ist das noch zeitgemäß?

Heinrich Lummer: Im Prinzip muß es keinen Widerspruch zwischen der europäischen Einigung und der deutschen Einigung geben. Ich will verständlicherweise beides. Die Frage der nationalen Einheit ist für mich nicht überholt. Gerade wenn man die Entwicklung in der Sowjetunion im baltischen Raum etwa betrachtet, dann weiß man, daß die Virulenz der nationalen Frage gegeben ist. Ich will nicht den Nationalstaat des 19.Jahrhunderts zurückhaben, aber ich will genauso einen Nationalstaat für mich in Anspruch nehmen, wie das die Franzosen und die Engländer, die Belgier und auch die Sowjets tun.

Aber die deutsche Teilung ist doch selbstverschuldet, Konsequenz nationalsozialistischer Verbrechen und des Zweiten Weltkrieges?

Auch wenn ein Volk Schuld auf sich geladen hat und natürlich seine Geschichte zu verantworten hat, darf man ihm nicht die unveräußerlichen Menschenrechte, dazu gehört das Selbstbestimmungsrecht, nehmen.

Wenn sich Einheits- und Freiheitsfrage aber durch die Entwicklung in Ost- und Mitteleuropa entkoppeln, dann spielt das doch nicht mehr so eine Rolle?

Sicherlich wird diese Frage ihre Dramatik verlieren, wenn in beiden Teilen Freiheit herrscht. Es bleibt auch dann die Option offen, sich für oder gegen eine Einheit zu entscheiden.

Sie deuten ja an, daß die EG auch für osteuropäische Länder, auch für die DDR offengehalten werden muß.

Dahinter steckt auch die Überlegung, daß die Spannungen zwischen Ost und West abgebaut werden. Es gibt eine Gemeinsamkeit, die auch friedensstiftenden Charakter hat. Ich kann mir vorstellen, daß auch die osteuropäischen Länder ein Interesse daran haben, in dieser Gemeinschaft zu sein. In Jugoslawien und auch in Ungarn, in Österreich sowieso wird darüber nachgedacht.

Wie sieht das Haus Europas Ihrer Meinung nach in zehn Jahren aus?

Wer will schon gerne den Propheten spielen. Ich sehe aber Bedeutsames. Nicht umsonst hat Gorbatschow den alten Heraklit mit der Bemerkung zitiert, alles fließt. Es bewegt sich hin zu mehr Freiheit, mehr Demokratie in Osteuropa, vielleicht sogar zum Mehrparteiensystem mit Opposition. Dann sind die Voraussetzungen für ein gemeinsames Haus Europas gegeben. Denn bestimmte Gemeinsamkeiten der Strukturen in einem solchen Hause muß es wohl geben.

Haben Sie keine Angst vor solchen Veränderungen, vor dem Verschwinden gewohnter Feindbilder?

Vorm Verlust von Feindbildern habe ich überhaupt keine Angst. Ich habe sogar vorgeschlagen, eine deutsch-deutsche Wissenschaftlerkommission zu bilden, die sich mit den Feindbildern beschäftigt, sie aufschreibt und abbaut. Die Sorge ist eher, wenn eine Entwicklung in der Sowjetunion oder in der DDR außer Kontrolle gerät, daß nicht Gorbatschow obsiegen wird, sondern Kräfte, die man gemeinhin auch konservativ nennt.

Honecker rüstet ab. Müßte auf dieses Signal nicht eine andere Reaktion kommen als Sätze wie „weiter so“ oder „erst verhandeln“.

Was dort passiert, ist sicherlich ein Stück Reaktion auf die Gesamticklung, das was Gorbatschow das neue Denken nennt. Mit militärischer Macht kann man heute keinen Blumentopf mehr gewinnen, nichts bewegen, nichts verändern, man braucht sie vielleicht auch. Aber das ist nichts für die Dynamik, die findet im wesentlichen im Bereich der geistigen Auseinandersetzung und der Ökonomie statt. Das Militärische hat zu einem wesentlichen Teil ausgedient. Jetzt müssen wir Konsequenzen daraus ziehen.

Die Verteidigungsausgaben in der DDR belaufen sich auf 16 Milliarden, in der Bundesrepublik auf 53 Milliarden, die DDR reduziert um 10 Prozent, die Bundeswehr verlängert die Wehrpflicht, von Reduzierung des Wehretats kann keine Rede sein.

Auf jeden Fall sind die Pro-Kopf-Ausgaben in der DDR für Verteidigung höher. Wir wollen die KRK-Verhandlungen abwarten, und wenn sich dort etwas bewegt, dann bin ich ziemlich sicher, daß wir nicht nur dort, sondern an vielen anderen Stellen auch flexibel sein werden.

Finden Sie nicht vor dem Hintergrund all dessen den Berliner Wahlkampf provinziell? Überall auf der Welt wird über die Mauer und das europäische Haus diskutiert, nur hier in dieser Stadt spielt das alles keine Rolle?

Zu Zeiten des kalten Krieges haben auch die außenpolitischen, die sicherheitspolitischen Fragen eine wichtige Rolle gespielt, aber die Tatsache, daß das gegenwärtig nicht mehr der Fall ist, spricht ja auch dafür, daß diese Sorgen um die Zukunft Berlins, die Einverleibung durch den Osten, schon in den Köpfen der Leute zur Vergangenheit gehört. Und zweitens gibt es einen Grundzug zu einer bemerkenswerten Regionalisierung oder Kommunalisierung der politischen Denkweisen. Die Leute wollen vorwiegend das sehen und behandelt wissen, was vor der eigenen Haustür passiert, was sie unmittelbar betrifft. Eigentlich schade.

mtm