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Gerichtsverhandlung im Hinterzimmer

■ Richter, Staatsanwalt und Verteidiger machen zusammen Kurzen Prozeß

Es ist soweit: Nach neun Monaten Untersuchungshaft, stehe ich vor dem Landgericht, angeklagt in 54 Fällen. Zwei Verhandlungstage sind anberaumt, aber bei dem Aktenberg könnte es länger dauern. Sieben Zeugen sind zu vernehmen und ein Gutachter anzuhören.

Am ersten Verhandlungstag, nach einer Stunde und 50 Minuten, werde ich im Namen des Volkes zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ich nehme dieses Urteil an und auch der Staatsanwalt hat keine Einwände. Somit wird das Urteil rechtskräftig. Wie kommt so etwas zustande?

(...) Um 8.30 Uhr sitze ich auf der Anklagebank des Landgerichts, angeklagt wegen 39 PKW-Diebstählen, 14 Eigentumsdelikten und einem Raub. Um 8.35 Uhr wird die Verhandlung auf Antrag des Vorsitzenden Richters unterbrochen - im Einverständnis mit dem Staatsanwalt und der Verteidigung. Um 8.40 Uhr erscheint mein Verteidiger bei mir und unterbreitet mir das Angebot des „hohen“ Gerichts.

Um den ganzen Aktenberg während der Verhandlung nicht durchgehen zu müssen, macht das Gericht folgenden Vorschlag:

1. 51 Straftaten werden eingestellt, wenn...

2. für den Raub und zwei PKW-Diebstähle „erhalte“ ich sechs Jahre Freiheitsstrafe, wenn...

3.alles am gleichen Tag rechtskräftig wird, das heißt ich auf die Revision verzichte.

4. wenn ich ablehne und die Verhandlung „normal“ laufen muß, muß ich mit ein bis zwei Jahren Zuschlag rechnen.

Nach kurzer Absprache mit meinem Anwalt erkläre ich mich bereit, die sechs Jahre zu akzeptieren. Es ist 8.45 Uhr und ich kenne nach 15 Minuten schon mein Urteil.

Um 8.50 Uhr wird die Verhandlung wieder aufgenommen. Zuerst wird der Gutachter nach Hause geschickt, dann alle Zeugen ausgeladen, die ab 11.30 Uhr bestellt waren. Nun beginnt die eigentliche Verhandlung.

Punkt 1. 51 Anklagepunkte werden vorläufig eingestellt(§154).

Punkt 2. Die Anklage lautet somit jetzt nur noch auf Raub und PKW-Diebstahl in zwei Fällen. Nun komme ich zu Wort, werde befragt, verhört nach meinem Lebenslauf und Werdegang. Ich frage mich, was das alles soll, es ist doch schon alles klar. (...)

So läuft die Verhandlung dahin. Es wird vorgelesen, gefragt, geantwortet. Dann hat die Staatsanwaltschaft das Wort. Der Staatsanwalt beantragt fünf Jahre sechs Monate für den Raub und jeweils zehn Monate für die beiden PKW. Ich denke und rechne schnell - das sind ja sieben Jahre und... Doch da höre ich ihn schon fortfahren, lauter positive Sachen zu meiner Person - es können einem die Tränen kommen

-und weil ich so ein „lieber“ Mensch bin und das Gericht mir eine Chance geben will, beantragt er im Strafzusammenzug „nur“ sechs Jahre.

Jetzt mein Anwalt. Der sieht alles etwas anders, aber stimmt dem Strafmaß zu. Das „hohe“ Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Mittlerweile ist es 9.40 Uhr.

Ich frage mich, was die nun wohl beraten - es ist doch alles schon klar - vielleicht beraten sie, wie sie ihr Gewissen reinigen, wer weiß. Nach 40 Minuten um 10.20 Uhr geht's zur Urteilsverkündung. Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil ...sechs Jahre Freiheitsstrafe...

Urteilsbegründung folgt. Fünf Jahre für Raub, ein Jahr für PKWs. Da hab‘ ich aber gut gekauft, „nur“ sechs Jahre, läßt der Richter durchblicken.

Anschließend Rechtsbelehrung vom Richter, wieder der versteckte Hinweis, ich solle an die Abmachung denken. Hat der vielleicht Angst, ich mache den „guten Deal“ noch kaputt? Mir liegt's auf der Zunge „Ich beantrage Revision“, aber obwohl ich weiß, daß dieser Antrag durchgegangen wäre, ließ ich es bleiben. Das Risiko ist mir zu hoch, und ich kenne ja die „Drohung“ ein bis zwei Jahre mehr.

Also sage ich wie abgemacht, ich verzichte auf Rechtsmittel. Richter und Staatsanwalt strahlen zufrieden (vielleicht haben sie jetzt frei, wo doch der andere Verhandlungstag ausfällt?). Jetzt, wo ich meinen Teil auch pflichtmäßig erfüllt habe, bekomme ich noch den Bonus, quasi die Einkaufstüte gratis. Die 51 vorläufig eingestellten Strafverfahren werden endgültig eingestellt. Die Sitzung ist geschlossen. (...) Auf das eigentliche Problem, warum ich diese Taten beging, ist niemand eingegangen, weil's nach dem Motto lief: im halben Dutzend ist's billiger. Da kommt's dann weder auf die Einzelheiten noch auf die Ursachen an.

Aber ich habe Zeit, sechs Jahre lang über dieses Sonderangebot nachzudenken, und ich werde das Gefühl nicht los, das man mich nicht nur um sechs Jahre beschissen hat.

A.A., Kassel

(...) (...)

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