: „Neue Sicherheitsdoktrin“
Der SPD-Abrüstungsexperte Egon Bahr zu Honeckers Ankündigungen ■ I N T E R V I E W
taz: Was muß jetzt in der Bundesrepublik passieren?
Egon Bahr: Die Bundesregierung muß ihr Gesamtkonzept überdenken und selbstverständlich davon ausgehen, daß sich das objektive Bedrohungspotential in den nächsten zwei Jahren aus der DDR entscheidend verändern wird: Überraschungsangriffe werden danach nicht mehr möglich sein.
Ist eine Änderung der westlichen Verteidigungsdoktrin notwendig?
Eine Verlängerung des Wehrdienstes, Modernisierung durch neue Raketen, vielleicht Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf Wunsch der Amerikaner, das alles paßt nicht mehr in die Landschaft. Wenn die Bundesregierung da weitermacht, dann wird sie es zunehmend mit Widerstand aus der Bevölkerung oder Unverständnis zu tun bekommen.
Muß die Verlängerung der Wehrdienstzeit nun noch einmal diskutiert werden im Bundestag?
Ich weiß nicht, ob meine Fraktion noch einmal eine Sache aufgreifen wird, die die Bundesregierung - wenngleich mit Hängen, Würgen und Zähneknirschen der FDP - gerade noch einmal festgeklopft hat. Die Wehrdienstverweigerung paßt überhaupt nicht in die Landschaft. Die FDP weiß, für ihren Vorschlag, das neue Wehrdienstgesetz mindestens für drei Jahre auszusetzen, gibt es eine parlamentarische Mehrheit auch morgen noch.
Nato-Generalsekretär Wörner behauptet, die Nato sei der wahre Friedensstifter und Gorbatschow vollziehe nur, was die Allianz vorgegeben hatte.
Der englisch sprechende Generalsekretär sollte nicht vergessen, daß er auf der einen Seite gerne von der Invasionsfähigkeit und auf der anderen Seite gleichzeitig von der Verteidigungssicherheit des Bündnisses spricht. Das stimmt schon bisher nicht. Es stimmt natürlich nach den einseitigen Reduktionen erst recht nicht. Diese einseitigen Reduktionen sind nicht das Ergebnis westlicher Abrüstungen oder Ankündigungen, sondern Ergebnis einer neuen Sicherheitsdoktrin des Warschauer Vertrages, die auf bloße Verteidigungsfähigkeit abgestellt ist. Insofern ist sowohl der sowjetische wie auch der Schritt der DDR objektiv nötig, möglich, richtig und macht den Appetit auf mehr.
Der CSU-Fraktionsgeschäftsführer Seiters sagt: Wer behauptet, die bisherige Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik sei nicht mehr notwendig, unterliegt dem gleichen Irrtum wie beim Nato -Doppelbeschluß. Den Doppelbeschluß hat die SPD noch zu verantworten.
Dieser Vergleich ist deshalb völlig falsch, weil die Nato damals gesagt hat, wir wollen den Osten an den Verhandlungstisch zwingen durch die Entschlossenheit zur Nachrüstung. Heute hat der Westen Angst, der Osten könnte einen neuen Null-Vorschlag machen und möchte das gerne verhindern. Wir brauchen gar keine Aufrüstung, um die Russen zur Abrüstung zu zwingen. Ein Modernisierungsvorschlag für die Kurzstreckenraketen, der stur gemacht wird, unabhängig von dem, was der Osten tut, ist politisch töricht und der beste Weg, die Verteidigungsbereitschaft in unserer Bevölkerung zu reduzieren.
Interview: Gerd Nowakowski
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