: „Wo man Schweiß riecht, gibt es kein Glück“
■ Gespräch mit Isabelle Huppert über ihre Rolle der Engelmacherin Marie in Claude Chabrols „Une affaire de femmes“ (siehe taz vom 26.1.)
Serge Toubiana: Uns scheint, daß Sie für die Rolle der Marie in „Une affaire des femmes“ so wenig wie möglich über die Zeit, den Kontext, die Motive der Personen wissen durften, damit Sie alles noch einmal erfinden konnten und es nicht in irgendwelche literarischen Zusammenhänge einordnen mußten?
Isabelle Huppert: Das stimmt für die meisten meiner Rollen. Eine Rolle zu spielen hat für mich viel mit Literatur zu tun, mit den Bronte-Schwestern beispielsweise, die alles erfunden haben, ohne jemals aus ihren Wänden herausgekommen zu sein. Ich habe noch nie das Bedürfnis gehabt, für irgendeine Rolle Recherchen anzustellen, und schon gar nicht für diese, obwohl es hier bei all dem reichhaltigen historischen, sozialen, politischen Material besonders nötig scheint. Selbst wenn ich mich Marie hätte nähern wollen, wäre es mir schwer gefallen: Die Wirklichkeit war soweit weg von mir, diese Frau, die nicht mein Alter hatte und ganz anders war als ich. Ein Modell zu kopieren wäre gefährlich gewesen, besser war es, eine Person neu zu erfinden, in der Hoffnung, daß sich gewisse Ähnlichkeiten ergeben würden.
In einem anderen Gespräch haben Sie gesagt, daß Sie mit Chabrol darin übereinstimmten, daß die Rolle nicht allzu ausführlich erklärt werden sollte.
Was mich an dieser Figur am meisten beschäftigt hat (ich habe es Chabrol während des 'Cahiers'-Interviews gesagt), war ihre Tätigkeit als Engelmacherin. Wir haben über das „Handwerk“ gesprochen, aber wenn wir versucht hätten, das allzusehr zu ergründen (und das tut man, wenn man darüber spricht), dann wären wir auf einen falschen Weg geraten. Es kam nicht in Frage, da einen Feminismus einzubringen und nicht einmal die Vorstellung einer Frauensolidarität; das wäre nur darauf hinausgelaufen, eine ganz intellektuelle Reflexion zwischen mich und sie zu schieben, eine Reihe von Kausalitäten. Denn das stärkste an dieser Figur war ihre rohe, naive, irdische, bäuerliche Seite. Da war nichts zu machen.
Aber wie haben Sie diese Skrupel wegen der Tätigkeit als Engelmacherin beim Drehen überwunden?
Ich habe mich hineingestürzt, ohne mir die Frage zu stellen. Wichtig war vor allem die Umgebung: das immergleiche Kostüm, die schmutzigen Kulissen, die Inszenierung... Aber ich glaube nicht, daß das so von selbst gekommen ist wie bei anderen Rollen, die ich gespielt habe. Bei „Violette Noziere“ etwa war ich mit Dingen konfrontiert, die mir näher waren. Doch im Laufe der Dreharbeiten konnte ich mit einigen Sachen etwas anfangen. Diese Vorstellung des Aufbegehrens, der Rebellion: Da habe ich plötzlich eine Verbindung mit der Figur gespürt. Es fällt mir leichter, eine Rolle zu gestalten, wenn ich in ihr so etwas wie ein „Nein“, eine Verweigerung entdecke: Da stellt sich dann eine Dialektik, eine Bewegung ein. Das ist mir gerade eben erst klar geworden (lacht): man handelt fast immer, um „Nein“ zu sagen, selten, um „Ja“ zu sagen; man versucht, sich den Dingen entgegenzustellen, und genau das macht die Marie im Film: sie sagt „Nein“ zum Leben, zur Armut, zum Krieg, zu ihrem Mann... Das habe ich immer in meinen Rollen gemacht: schreiend, sprechend, aber immer Nein.
„Violette Noziere“ war ein eher düsterer, ein geradezu expressionistischer Film, während die Marie in „Une affaire...“ viel stärker im Licht steht; der Film ist beinahe ein Dokumentarfilm über diese Figur.
Das stimmt, aber das kann meine Spielweise nicht beeinflußt haben, denn darüber ist man sich beim Drehen nicht bewußt. Jetzt, wo Sie es sagen, stimmt es. Diese Figur steht sehr im Licht. Vielleicht hat mich das unbewußt so beeinflußt, daß ich sie auf eine sehr klare Weise gespielt habe, sozusagen ohne „Schattenzone“. Ich glaube, daß ich mich verändert habe, daß etwas klar geworden ist. Caroline, die Frau von Martin Karmitz, hat neulich zu mir gesagt: „Es ist ganz offenkundig, daß du etwas willst.“ Ich hoffe, daß das nicht allzu offenkundig ist, aber ich mußte doch lachen. Vielleicht will ich etwas, über den Film, über die Rolle hinaus, und dieser „Wille“ hat unvermeidlich auf die Figur und meine Art, sie zu spielen, abgefärbt. Aber das entspricht der Figur: Marie will etwas, sie steckt nicht mehr in der Pubertät, sie ist roh, naiv, nicht sehr scharfsinnig, und trotzdem erscheint sie irgendwie komplex. Die Komplexität kommt aber nicht aus ihr, sondern aus der Welt, der sie ausgesetzt ist: Ihr Mann, der zurückkommt, den sie nicht mehr begehrt, die Tatsache, daß sie Sängerin werden will, all das macht den Reichtum dieser Figur aus. Und sie ist eine Frau: Sie lügt, sie ist abergläubisch, sie ist bestechlich - womit ich nicht sagen will, daß das die Definition von „Frau“ sei (lacht), denn sie ist auch mutig und liebenswürdig...
Sie machen in diesem Film etwas Außerordentliches, das an die großen amerikanischen Schauspielerinnen erinnert: diese Art, einfach in eine Rolle hineinzuspringen, sie frontal anzugehen. Man spürt in diesem Film bei Ihnen wie bei Chabrol die Lust, etwas einfach beim Schopf zu packen.
Ja, und einen Weg noch weiter zu verfolgen, der mir vorgezeichnet ist. Ich denke an praktische Dinge, etwa daß es keine Schminke gibt - die Nacktheit des Gesichts, nichts Künstliches. Sie haben die amerikanischen Schauspielerinnen erwähnt - genau daran denke ich auch, und nicht an irgendwelche raffinierten Bilder. Meiner Meinung nach ist das das Gegenteil des Risikos: Um etwas zu erreichen, muß man über das Ziel hinausschießen. Viel riskanter wäre es gewesen, sich mit dem zu beschäftigen, womit man sich in solchen Situationen nicht beschäftigen darf. Ich weiß nicht, ob es eine französische oder eine amerikanische Spielweise gibt, aber was Sie gesagt haben, gefällt mir: So etwas wie eine fehlende Zurückhaltung, eine Art, sich zu verausgaben, das Gegenteil des guten (französischen) Geschmacks. Und das ist so ein Glück...
Glauben Sie, daß das eine Ihrer stärksten Rollen ist?
Dazu fehlt mir der Abstand, und wenn man sich auf der Leinwand sieht, dann weiß man auch nie, ob der Film jedermann gefallen wird. Chabrol hat mir gesagt: „Kennst du viele Schauspielerinnen, die beinahe den ganzen Film in Großaufnahme erscheinen?“ Claude sagt, daß meine Art zu spielen ihn zwänge, immer näher ranzugehen, und je näher er kommt, desto mehr gebe ich. Die Sicherheit, die man bei ihm spürt, gibt auch den Schauspielern Sicherheit, die alle hervorragend sind: Cluzet, Marie Trintignant, Nils Tavernier... Man spürte eine flüssige Regie, die Einstellungen folgten dicht aufeinander, ich habe nie zweimal dasselbe gespielt.
Haben Sie gespürt, daß es Chabrol Freude machte, diesen Film zu drehen?
Ja, sehr, von Anfang an, seit er das Buch bekommen hatte. Aber ich weiß nicht, wo es sich im Film versteckt, ich spüre es intuitiv. Das Gebiet, auf dem wir beide uns am besten verstehen, ist eine Methode, die scheinbar nichts mit der Arbeit zu tun hat. Kurz gesagt, eine Art und Weise, sich nicht ernst zu nehmen, auch wenn das nicht so einfach ist, wie's klingt: Natürlich haben wir ernsthaft gearbeitet, aber ohne Verbissenheit; es brauchte nichts mehr gesagt werden. Wo man Schweiß riecht, gibt es kein Glück.
Freilich muß man auch mit dem Fehlen von Antworten fertigwerden: Ich stelle ihm keine Fragen, er gibt mir keine Antworten, und aus diesem Niemandsland entspringt alles.
Chabrol ist ein Cineast, der gern provoziert. Der Zuschauer weiß nicht, auf welche Seite er sich stellen soll. Vielleicht ist er auf der Seite von Marie, aber nicht sofort, nicht die ganze Zeit, und wenn er es am Schluß ist, dann vielleicht nicht aus guten Gründen. Das ist die Stärke von „Une affaire...“, daß Sie alle Absichten, alle Gefühle zeigen, daß aber der Zuschauer sich seines Einverständnisses nie sicher sein kann.
Ja, eine Art, den Zuschauer einzubeziehen, ohne ihn einzubeziehen, oder ihn nicht einzubeziehen und ihn irgendwie doch wieder einzubeziehen. Das entspricht ganz meiner Art und Weise, die Rolle zu leben: Wenn Marie widerlich ist zu ihrem Mann, dann wenigstens richtig, wenn sie später unglücklich ist, ebenfalls. Der Zuschauer muß den Zusammenhang selbst herstellen. Aber die Rolle ist so geschrieben, und ich habe sie lediglich so gespielt, wie sie geschrieben ist. So sollte sie zum Beispiel weinen, wenn ihre jüdische Freundin abgeholt wird, also habe ich geweint. Und wenn Marie nicht weiß, was das zu bedeuten hat, dann muß ich es auch nicht zeigen. In den Szenen mit dem Liebhaber begreift sie vage, daß er ein Kollaborateur ist, aber das Wenige, was sie begreift, reicht aus, um in ihrem Unbewußten eine Frage entstehen zu lassen. Mir geht es genauso im Leben, ich verstehe, ohne genau zu wissen, ob ich richtig verstanden habe, deshalb spiele ich auch so. Intellektuelle ziehen mich an, obwohl ich mich überhaupt nicht als Intellektuelle fühle, da bin ich wie Marie: Es gibt eine rauhe und eine geschliffene Seite; ich bin ein bißchen intellekueller, aber nicht sehr.
Vor zwei Jahren haben Sie mir gesagt, daß Sie hoffen, vier oder fünf große Rollen zu spielen, und nebenher kleinere Sachen zu machen. Ist Marie die erste in der neuen Serie?
Ich hoffe es, aber große Rollen findet man selten. Das hier ist nicht die erste, glücklicherweise hatte ich schon schöne Rollen. Das Besondere an der hier ist jedoch das Gefühl, das ich während des Drehens hatte, daß es Momente gibt, wo es mehr als in anderen darauf ankommt, etwas zu erreichen. Alles ist auf der Leinwand sichtbar: die Erschöpfung, die Energie, die Müdigkeit, die Lust, zu verführen... Ich hatte lange nicht in einem französischen Film gespielt. Heißt das, daß man nur alle drei Jahre einen Film machen sollte? Oft macht man zuviel...
Haben Sie Pläne für die nächste Zukunft?
Anfang 1989 werde ich wieder Theater spielen: „Ein Monat auf dem Land“ von Turgenjev. Und dann suche ich Rollen fürs Kino. Ich kann nicht von einer Rolle träumen, wenn ich nicht weiß, daß gleichzeitig ein Regisseur davon träumt. So ist das bei „Une affaire...“ gewesen. Es ist angenehm, wenn ein Regisseur an sie denkt; eine Begegnung kann man nicht künstlich erzwingen. Wenn die Rollen, die man spielt, so etwas wie Zeichen sind, die man aussendet, dann ist Marie eines, und notwendigerweise antwortet ein Zeichen auf ein anderes. Deshalb darf man nichts überstürzen. Während der letzten drei Jahre haben das französische Kino und ich uns keine Zeichen mehr gegeben; jetzt beginnt vielleicht ein neuer Dialog...
Ich vergleiche das Kino gern mit der Literatur; ich glaube, die Worte ziehen mich an, aber da ich nicht die Fähigkeit habe, sie zu benutzen, nehme ich das Kino, um so dicht wie möglich an den literarischen Prozeß heranzukommen, der der komplizierten Analyse des Innenlebens eigentlich angemessener ist. Ich habe den Eindruck, als schriebe ich Bücher, während ich meine Rollen spiele. Die Bilder sind Sache des Regisseurs; ich fühle mich den Gefühlen, dem Spiel näher als den Bildern. Die Vorstellung, etwas wie in einem Roman zu analysieren, zu sezieren, ist für mich als Schauspielerin dabei sehr wichtig. Eine Art, zu spielen und gleichzeitig „ich“ zu sagen: Wenn ich die Person wäre, würde ich die Geschichte so erzählen: Das ist die Geschichte der Marie, die... Manchmal frage ich mich, ob das Kino als Kunst genauso vollkommen ist wie die Literatur. Versucht es nicht ständig, ihr nahezukommen? Wenn es eine „unreine“ Kunst ist, wird es dann als Kunst überdauern? Ich sage das als Advocatus Diaboli, um sicher sein zu können, daß ich richtig liege.
In den letzten Jahren haben Sie vor allem im Ausland gearbeitet. Wie sehen Sie die Entwicklung des französischen Films?
Es ist schwierig, ein gerechtes Urteil zu finden und niemanden zu verletzen. Es kommt mir vor, als wäre das ein Kino, in dem kein Platz für mich ist. Jede Epoche bringt eine bestimmte Art von Film hervor, und die Filme gleichen der Epoche, die wir gerade hinter uns haben: der des „Outfit“, der Comic, der Code, die vor allem auf der äußeren Erscheinung beruhte - das waren die Kennzeichen der achtziger Jahre. Daraus entsteht viel Gutes, aber nicht immer. Interessant ist natürlich, was die Epochen überschreitet oder, genauer, was einer Erwartung vorausgeht und sie am besten ausdrückt. Man hat mich vielleicht zu Unrecht mit einer bestimmten Epoche identifiziert, mit dem Ende der siebziger Jahre. Nun, ich fühle mich keiner Epoche verbunden, vielmehr glaube ich, daß ich durch alle hindurchgehe, ohne daß sie mich wirklich berühren.
Auch der Film fällt dem zum Opfer. Vor allem die Medien halten nicht viel vom Kino; die Kunst, über Filme zu sprechen, ist verschwunden, und das Kino ist dafür nicht verantwortlich. In den letzten Jahren hat sich soviel verändert. Filme waren einst die einzigen „laufenden Bilder“, heute gibt es solche Bilder überall, alle Arten, man braucht nur das Fernsehen anzustellen. Welch ein Durcheinander! Hauptsache, es bewegt sich und spricht. Das Kino wurde auf seinem eigenen Terrain durch die Fülle der anderen Formen zurückgedrängt - Clips, Reklame, Serien - und die Leute interessieren sich weniger dafür als früher. Das Kino ist nicht mehr der einzige Hüter des Spektakels, deshalb gibt es soviel Durcheinander.
Aus dem Französischen von Andreas Eisenhart. Auszüge aus einem Interview, abgedruckt in 'Cahiers du Cinema‘, September 1988
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