: Mehr Sonne, aber noch mehr Atom
Tschernobyl, im Herbst 1986, eine menschenleere Stadt. An den Bäumen Äpfel, die niemand ißt. Über den Dächern ist ein Schwarm Krähen zu sehen. „Die Radioaktivität“, sagt der Sprecheraus dem Off, „war überall - an den Blumen, den Häuserwänden, in der Luft.“
Erstaufführung in der Bundesrepublik eines halbstündigen Videofilms des „Ostsibirischen Filmstudios“, den die sowjetische Delegation auf diesem Ost-West-Seminar vorstellte.
Ansonsten: Fünf Tage Diskussion und erbitterter Streit unter den insgesamt etwa 80 TeilnehmerInnen - die sowjetische Delegation auf de einen, die bundesdeutschen AKW -Gegner auf der anderen Seite. Um Ausstieg ging es, um alternative Energiequellen, um die (Un-)Sicherheit alter wie neuer Reaktorlinien. Näher kam man sich nicht in den Grundpositionen - das hatte auch niemand erwartet. Öko -Wissenschaftler, Grüne und BI'ler vertraten die bekannten Positionen: AKWs sind so gefährlich, daß ihr Weiterbetrieb nicht zu verantworten ist, der sofortige Ausstieg ist zumindest hier bei uns - machbar.
Ein ganz anderer Begründungszusammenhang bei den sowjetischen Teilnehmern: Ihr Land leide immer noch unter Energiemangel, und so komme allenfalls in einer sehr fernen Zukunft der Verzicht auf Atomenergie in Betracht. Bis zum Jahr 2000 müßten die AKW-Kapazitäten erst einmal verdoppelt bis verdreifacht werden. Vorerst komme es darauf an, die laufenden und künftigen Anlagen so sicher wie irgend möglich zu machen. Das Repzept: Nach- und Umrüsten, enge Kooperation mit dem Westen und der Internationalen Atomenergiebehöre sowie strengere Anforderungen an neue Reaktoren (siehe Interview).
Im Gegensatz zur Bundesrepublik, so begründeten Delegationsleiter Frolow und seine Kollegen das Mammut -Atomprogramm, verfüge die Sowjetunion kaum über Stromreserven; viele Regionen seien gar unterversorgt. Mittelfristig sei Ersatz für AKWs nur durch fossile Energieträger denkbar - Kohle und Öl aber verschmutzten die Luft. Und das Erdgas sei vor allem für den Export vorgesehen. Die ständig teurer werdende Energieproduktion erlaube zudem keine rasche Umstrukturierung, und schließlich werde die UdSSR ohnehin ihre militärischen Reaktoren zur Plutoniumproduktion auf absehbare Zeit weiter betreiben müssen. Man strebe zwar an, sie so bald wie möglich abzuschalten - aber das hänge schließlich auch von der Abrüstungsbereitschaft des Westens ab.
Doch auch neue Töne waren von den sowjetischen Gästen zu hören. Ihr Vertrauen ins Atom ist längst nicht mehr ungebrochen. Professor Alexander Arbatow, Laborleiter am Institut für Systemforschung bei der Akademie der Wissenschaften, berichtete ausführlich über den Ausbau von erneuerbaren Alternativenergien. Wind, Wasser und Sonne, die 1985 gerade eine Million Tonnen Steinkohleeinheiten (SKE) hergaben, sollen bis zum Jahr 2000 auf 20 bis 25 Millionen Tonnen hochgehievt werden, zehn Jahre später sollen es 50 bis 60 Millionen sein - rund fünf Prozent der Energieversorgung.
Für die AtomkritikerInnen, die aus der gesamten Bundesrepublik angereist waren, bot das Seminar die selten gewordene Gelegenheit, ihre Argumentation wieder einmal einem harten Test auszusetzen. „Eine Chance“, so nannte es jemand, „die wir hier in der BRD schon lange nicht mehr haben“ - sei es, weil die Atomgemeinde die Auseinandersetzung scheut, sei es, weil die „Bewegung“ die Lust an Gesprächen verlor, deren Ergebnis immer schon vorher feststand. Von den Sowjets gab es dagegen auch inhaltlich Neues zu hören, zum Beispiel Informationen über Standorte und technische Konzeption von geplanten Sonnenkraftwerken.
Viele Teilnehmer waren allein schon davon angetan, daß ein solches Treffen überhaupt möglich war: daß zum ersten Mal eine hochrangige Partei- und Funktionärsdelegation kam, um in offiziellem Rahmen mit westdeutschen AKW-Gegnern zu diskutieren. Einer von diesen hatte gar das erhebende „Gefühl, einem historischen Ereignis beizuwohnen“.
Reimar Paul
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