: Gentechnologie als Beruf
■ Benno Müller-Hill, Mitarbeiter am „Institut für Genetik“ der Universität Köln, wendet sich gegen eine Verurteilung der Gentechnologie überhaupt. Sein Artikel ist eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bernhard Claußen „Gentechnologie als Politikum“, aus: 'Perspektiven des Demokratischen Sozialismus‘, Heft 2/88
Benno Müller-Hill
Bernhard Claußen wendet sich dagegen, daß eine Betrachtung der Gentechnologie „noch immer von der Gegenüberstellung von Chancen und Risiken ihren Ausgang nehmen sollte“. Denn: „Nur zu leicht nämlich mündet ein solches Verfahren darin, um wünschenswerter Vorteile willen Nachteile in Kauf zu nehmen, gering zu schätzen oder zu übersehen.“ Was er empfiehlt, ist erstaunlich: „Besser geeignet für Wirklichkeitserschließung und Handlungsorientierung, obwohl nicht eben leichter, ist daher vermutlich ein Vorgehen, das von den erkennbaren oder für denkbar zu haltenden extremen Risiken her die moderne Gentechnologie problematisiert.“ Mir scheint diese Argumentation nicht einleuchtend. Sie zielt aufs Ganze und begibt sich aus der Wissenschaft in die Hellseherei. Eine nüchterne Bestandsaufzählung des Wünschenswerten und des Nicht-Wünschenswerten scheint mir dagegen richtig und wichtig.
Gentechnologie ist ohne die Grundlagenforschung Molekularbiologie nicht machbar. So muß am Beginn der Betrachtung diese Wissenschaft selbst stehen. Sie ist sehr jung. Sie begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Molekularbiologen versuchen seither, durch Manipulation von DNA (des Genotyps) Proteine und Aussehen (den Phänotyp) von Bakterien, Tieren oder Pflanzen zu verändern. Indem man die Auswirkungen dieser Veränderungen immer besser voraussagen kann, wird die Welt des Lebendigen immer besser verstehbar und manipulierbar. Dem Nichtwissenschaftler ist wahrscheinlich nicht klar, wie gering unser heutiges Verständnis des Lebendigen ist. Heute versteht man noch fast nichts von den molekularen Programmen, die die Entwicklung der Pflanzen und Tiere bestimmen. Man versteht nicht, wie sich einzelne Proteine in ihrer aktiven Formen falten. Man versteht die molekulare Grundlage des Gedächtnisses nicht. Jeder Student, der hier auch nur an irgendeinem kleinen Stück zu arbeiten beginnt, wird schnell fasziniert von den Möglichkeiten, hier Licht ins Dunkel zu bringen. Unabhängig von aller Anwendung eröffnet sich hier eine ungeheure, bisher dunkle Welt. Man sollte nicht vergessen, daß die Physik mit Galilei dreihundert Jahre vor der Genetik begann. Molekular-Biologie von heute ist primitiv. Es gehört nicht viel Verstand dazu, sie zu verstehen. Mir scheint, daß dieser Aspekt, daß hier äußerst erfolgreich Grundlagenforschung betrieben wird, nicht klar gesehen wird.
Der Witz ist gerade, daß diese Art von Wissenschaft durchschaubar ist. Angst erregt diese Wissenschaft nicht bei dem, der über sie nachdenkt, sondern bei dem, dem Gefahren an die Wand gemalt werden. Wie steht es also mit den Gefahren? Wir erinnern uns noch zu gut an die riesigen imaginären Gefahren, die vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal durch die Presse an die Wand gemalt wurden. Bei der Klonierung von DNA könnten in Bakterien zufällig äußerst gefährliche Klone entstehen, die die Menschheit ausrotten könnten. Die Vorstellung solcher Gefahren hat zu allgemein mehr oder weniger beachteten Sicherheitsrichtlinien geführt. Wenn ich sage „mehr oder weniger beachteten“, so will ich damit sagen, daß ich nicht genau weiß, wie gut diese Richtlinien weltweit beachtet werden. In der Bundesrepublik werden sie, soweit ich das beurteilen kann, beachtet. Wie auch immer, in all den Folgejahren ist meines Wissens nirgendwo bei einem Klonierungsexperiment ungewollt etwas Gefährliches entstanden, das ein Opfer gekostet hätte. Die Behauptung von Herrn Segal, daß HIVI in Fort Detrick entstanden ist, ist eine unbewiesene Vermutung. Es ist gut, daß es so etwas wie wissenschaftliche Meinungsfreiheit gibt, die es gestattet, derartige Vermutungen auszusprechen, aber es ist schlecht, wenn unbewiesene Vermutungen für bare Münze genommen werden.
Wie steht es mit transgenen Pflanzen und Tieren? Hier wird es die Aufgabe des Gesetzgebers sein, nicht abbaubare Herbizide zu verbieten. Damit wird der resistenten Pflanze der Markt entzogen. Ich habe kein besonderes Mitgefühl mit transgenen Mäusen, und was transgene Nutztiere angeht, so meine ich, daß hier ökonomsiche Überlegungen die Verbreitung des allzu Absonderlichen nicht zulassen werden. Aber letztendlich werden die, die unbedingt täglich Fleisch essen müssen, bestimmen, was hier geschieht.
Es ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit ein Aufklärer wie Diderot davon reden konnte, Hybride zwischen Affen und Menschen herzustellen. Die Begründung klang überzeugend: um den Menschen in den Kolonien die Mühsal zu erleichtern. Heute haben wir Maschinen und können diesen Vorschlag beiseite legen, ja seinen Versuch verbieten. Mir scheint auch ein Verbot der Manipulation der menschlichen Keimbahn heute richtig - in hundert Jahren mag man anders darüber denken und es aufheben. Mir scheint überhaupt die Genomanalyse des Menschen potentiell das Unerfreulichste an der Gentechnologie zu sein.
Denn hier werden sich zwei unwiderstehliche Ströme miteinander verbinden: das Recht der Frauen, über die Austragung ihrer Ungeborenen zu entscheiden, und die Voraussetzung über den ökonomischen Nutzen und Schaden, das dieses Ungeborene seiner Mutter bringen wird. In Indien ist es in der Oberklasse bereits weit verbreitet, das Geschlecht des Ungeborenen zu bestimmen. „Weiblich“ bedeutet hier das Todesurteil: Ein Mädchen ist durch seine Mitgift zu teuer. Analoges gilt in Europa und USA für Downs: Ein Downkind ist zu teuer. Diese Fälle werden sich vermehren. Es scheint mir absehbar, daß die Frau der Zukunft ihre ersten Ungeborenen samt und sonders solange abtreiben läßt, bis schließlich das Idealkind sich ankündigt. Mir scheint eine solche Welt unerfreulich, aber mein Argument gegen sie ist nicht sozialistisch, sondern eher religiös: Ich möchte das Recht auf Nichtwissen als ein Grundrecht einsetzen und verteidigen.
Aus ähnlichen Gründen sollte die Genomanalyse von erwachsenen Arbeitnehmern oder anderen vom Gesetzgeber verboten werden. Im Gegensatz zur phänotypischen Geschicklichkeitsprüfung zielt die Genomanalyse auf einen Bereich hin, den ich gerne geschützt sähe. Das scheint mir durchsetzbar. Aber nicht verboten sehen möchte ich die Möglichkeit des Individuums, das die Wahrheit über sein Genom wissen möchte. Die Welt wird hier zerfallen: in die Modernen, die es wissen wollen, und die Religiösen, die es nicht wissen wollen. Beide sollten geschützt werden.
Reale Gefährdungen werden entstehen, wenn aktiv über biologische Waffen geforscht wird. Es ist höchst bedauerlich, daß die USA derartige Forschungen im wachsenden Ausmaß finanziert. Es wäre äußerst wünschenswert, wenn derartige Forschungen weltweit eingestellt und geächtet würden. Die Ergebnisse solcher Forschungen empfehlen sich für Geheimaktionen gegen Drittweltländer. Diese Länder werden dann einfach zu arm sein, um einen derartigen Angriff auf ihre Landwirtschaft oder auf die Gesundheit ihrer Bürger nachweisen zu können. Es scheint mir eine Verpflichtung aller Wissenschaftler zu sein, nicht an derartigen Projekten zu arbeiten und sie öffentlich zu machen.
Die immer wieder genannte Gefährdung durch Industrie -Projekte scheint mir dagegen in der Gesamtheit nicht gegeben. Hier ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein Projekt positiv ist oder nicht. Das Hoechst-Projekt, menschliches Insulin in E.coli herzustellen, ist beispielsweise begrüßenswert. Es ist nicht begrüßenswert, daß das Prüfverfahren Jahre dauerte. Diese Art von Verzögerung führte bereits zur Auslagerung großer Teile der gentechnologischen Produktion und Forschung aus der BRD. Es ist mir unverständlich, wie dies von Sozialisten begrüßt werden kann. Ist die Arbeitslosigkeit deutscher Wissenschaftler begrüßenswert? Mir scheint hier ein entsetzlicher Hochmut zu liegen, diese Entwicklung zu begrüßen - und im Ernstfall dann den Impfstoff oder das Medikament eben von einer amerikanischen Firma zu kaufen.
Was die positiven Seiten der Gentechnologie angeht, so möchte ich gerade Impfstoffe nennen, die auf konventionelle Weise nicht zu erhalten sind. Konventioneller Impfstoff gegen Hepatitis B ist sehr teuer, gentechnisch hergestellter sehr billig. Hepatitis B ist eine der schrecklichen Krankheiten, die die Menschen der Dritten Welt heimsuchen. Ähnlich steht es mit Malaria. Es scheint aussichtslos, konventionell einen Impfstoff herzustellen. Gentechnologisch scheint es schwierig, aber zumindest machbar. Welch ein Hochmut, hier den Impfstoff zu verbieten und die Betroffenen auf andere Maßnahmen wie DDT oder Beseitigung der Gewässer hinzuweisen.
Ähnliches gilt für den Blutgerinnungsfaktor. Glücklicherweise kann er jetzt gentechnologisch hergestellt werden und damit den Blutern das Risiko einer Aidsinfektion nehmen. Hier ist hinzuzufügen, daß Aids überhaupt nur durch gentechnologische Untersuchungen verstanden und so möglicherweise biologisch beherrscht werden kann. Nichts gegen Bewußtseinswandel, aber Bewußtseinswandel der noch Gesunden ist nicht alles und Medikamente sind wichtig für die bereits Erkrankten.
Es gibt noch einen generellen Aspekt, der angewandte Forschung an Hochschulen fragwürdig macht: die für die Patentgewinnung nötige Geheimhaltung. Daß überhaupt patentiert wird, scheint mir selbstverständlich. Das Problem liegt bei solcher Forschung in der Hochschule. Aber auch hier ist es beim guten Willen aller Beteiligten möglich, zu Kompromissen zu kommen. Ich habe beispielsweise ein Projekt mit der Firma Bayer durchgeführt, bei dem klargestellt war, daß es keine Geheimhaltungspflicht innerhalb des Instituts gab und wo die Patentfrist extrem kurz war. Mir scheint eine Vorstellung, daß eine Zusammenarbeit mit einem Industrieunternehmen oder gar ein Patent einem Pakt mit dem Teufel vergleichbar sei, weltfremd. Es kommt auf die Form an, in der die Zusammenarbeit geschieht.
Es scheint mir hier bei der Gentechnologie ähnlich wie bei anderen Unternehmungen zu sein: Das, was ursprünglich erwartet wurde, wird vielleicht gerade nicht geliefert, aber etwas anderes, Unerwartetes, wird geliefert. Ich wende mich gegen die, die wie Bernhard Claußen von der „eigentlichen immanenten Herrschaftlichkeit“ der Gentechnologie schwatzen, als hätten sie es bei Heidegger gelernt, die überall Gefahren sehen, Angst verbreiten und eine Punkt-für-Punkt -Analyse ablehnen. Es darf nicht sein, daß die Alternative „Alles oder Nichts“ akzeptiert wird. Denn dann geht der Weg wirklich ins Nichts.
Es ist im übrigen lächerlich, einer „liberalen oder konservativen“ Haltung allein Unterstützung der Gentechnologie anzulasten. Wie steht es mit den Sozialisten in der UdSSR und DDR? Zugegeben: In der DDR wird wenig gemacht, aber nicht aus Plan. In der UdSSR wird Gentechnologie so betrieben wie anderswo auch. Auch dort macht man Insulin E.coli und der, der das gemacht hat, erhielt einen Lenin-Preis. Das ist richtig. Mir scheint, daß der Autor und seinesgleichen ein Nirgendwoland im Blick haben.
Dankend entnommen den „Perspektiven des Demokratischen Sozialismus“ Heft 4/1988, SP-Verlag N. Schüren, Deutschhausstraße 31, 3550 Marburg
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