: „So ein Leben kann nur im Wahnsinn enden“
Sie sind die Karteileichen des Bundeskriminalamts und der Landeskriminalämter: Personen, gegen die ein Haftbefehl läuft, deren Vergehen jedoch zu gering ist, als daß aktiv nach ihnen gefahndet würde / Zermürbende Existenz auf Widerruf: Alltag zwischen Angst, geschnappt zu werden, und Tagträumen von der Zeit nach der Verjährung ■ Von Bernhard Kuntz
„Ich habe nur eine Stunde Zeit“, sagt er zu Beginn unseres Gesprächs. Doch mittlerweile sind vier Stunden vergangen, und noch immer quellen die Worte aus seinem Mund, als sei dieser über Jahre hinweg versiegelt gewesen.
Heinz ist seit vier Jahren auf der Flucht. Er selbst bezeichnet sich als „eine der unzähligen Karteileichen, die in den Datenbanken des Bundeskriminalamts und der Landeskriminalämter schlummern, denn er gehört faktisch zu den 70.000 Personen in der Bundesrepublik, die per Haftbefehl gesucht werden. Sein Vergehen - Verstoß gegen das Bundesbetäubungsmittelgesetz - ist jedoch zu geringfügig, als daß aktiv nach ihm gefahndet würde. Dennoch ist sein Leben von der Flucht geprägt: Die Brille wird gekauft, die Seriosität ausstrahlt; die Kleidung wird ausgesucht, die ihm das Aussehen eines mittleren Angestellten verleiht, und nur solche Kneipen werden von Heinz besucht, deren Namen - „Zur Linde“, „Zur Harmonie“, „Zum goldenen Anker“ - allein schon garantieren, daß ihre Besucher (gesetzestreue) Normalbürger sind. Orte zudem, an denen mit Sicherheit kein Spitzel des Rauschgiftdezernats auftaucht.
Der Traum von Heinz, nach zwei Haftstrafen endlich eine normale Existenz aufzubauen, währte nur kurz. Ein Bekannter verpfiff ihn, Heinz liefere ihm regelmäßig Haschisch, hatte er damals im Polizeiverhör behauptet. Heinz wiederum versichert, seit seiner zweiten Haftentlassung nichts mehr mit dem Zeug zu tun gehabt zu haben. „Doch was soll's“, sagt er heute lakonisch, „eines Morgens standen drei Bullen mit einem Haftbefehl vor meiner Tür.“ Im anschließenden Verhör wurde ihm angedeutet, er solle zunächst sich selbst belasten und sich bereit erklären, als V-Mann für das Rauschgiftdezernat zu arbeiten. Der Staatsanwalt werde dann beim Haftrichter beantragen, daß der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wird. Heinz ging nach anfänglichem Zögern auf das indirekte Angebot ein und „verpfiff“ vier ehemalige Kollegen, von denen er wußte, daß sie - ohne Wissen der bundesdeutschen Polizei - langjährige Strafen in ausländischen Gefängnissen abzusitzen hatten. Sein Haftbefehl wurde daraufhin außer Vollzug gesetzt; eine Woche später tauchte er unter.
Die Zeit, die nun folgt, ist ein Alptraum. „Zunächst kannte ich in der Kleinstadt, in die ich ging, niemanden. Und wer will schon Kontakt mit jemandem, der scheinbar unbegründet plötzlich ein Lokal verläßt oder auf der Straße die Richtung ändert? Wer hält es länger mit einer Person aus, die anscheinend ständig lügt?“ Heinz ist eine Person - nein, zwei Personen - mit verschiedenen Lebensläufen. Er hat eine Lebensgeschichte für oberflächliche Bekannte, die teilweise sein „verrücktes“ Verhalten erklärt. Er hat eine zweite für seine Freunde. Und jene braucht er dringend: Heinz kann nur schwarz arbeiten - eine Lohnsteuerkarte hat er nicht; Ärzte kann er nur mit dem Krankenschein einer anderen Person besuchen oder wenn er bar bezahlt - krankenversichert ist er nicht; eine Wohnung auf den eigenen Namen anzumieten ist nicht möglich - zu groß ist die Angst vor einem Datenaustausch der Behörden; autofahren darf er nicht - zu riskant ist es, in eine Verkehrskontrolle zu geraten.
„Diese Schwierigkeiten bestimmen auf die Dauer den Alltag stärker als die Angst, geschnappt zu werden“, erzählt Heinz. Sein aktuelles Problem: Seit Monaten hat er Zahnschmerzen. Doch einen Zahnarzt kann er auch nicht mit dem Krankenschein eines Freundes aufsuchen. Die Daten der Gebisse sind bei den Krankenkassen gespeichert. „Und zumindest bei den gesetzlichen Krankenkassen möchte ich nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, daß sie in bestimmten Fällen ihre Daten nicht doch Dritten zur Verfügung stellen.“ Seine Problemlösung zur Zeit: Täglich schluckt er zwei, drei Schmerztabletten.
„Dieses Leben kann nur im Wahnsinn oder am nächsten Balken enden“, sagt Klaus, der die Situation aus eigener Erfahrung kennt. Auch er war zwei Jahre auf der Flucht, ebenfalls wegen Drogendelikten. „Da lief ich als Zwanzigjähriger durch eine fremde Stadt - nach einiger Zeit mit einer Knarre in der Tasche - und hatte nur Schiß. Überall sah ich Bullen. Kein normaler Mensch kann sich diese Zustände der Verzweiflung vorstellen. Plötzlich stehst du vor einer Bank und überlegst dir, da geh‘ ich rein, hol‘ das Geld und dann ab ins Ausland. Dann drehst du dich um, weil du's nicht kannst, und willst dir selbst die Kugel geben.“ Nach anderthalb Jahren war Klaus mit seiner Kraft am Ende. Er verhielt sich auffällig. Wie er heute sagt, in der Hoffnung endlich verhaftet, von der inneren Spannung erlöst zu werden. „Ich habe in der Zeit angefangen, mich überhaupt nicht mehr zu waschen. Dazu kam der Suff. Nach einiger Zeit stank ich so, daß die Leute sich umdrehten, wenn ich in eine Kneipe kam. Ich lief dann ab und zu zur Theke, bestellte einen Cognac und schüttete ihn in mein Ohr. Die Leute gafften, ich verließ die Kneipe, leider kam kein Bulle.“
Nach zwei Jahren stellt sich Klaus freiwillig der Polizei. „Ich merkte, ich werde wahnsinnig mit nur einer Lebensperspektive und die heißt, früher oder später in den Knast.“ Das Resultat: zwei Jahre Knast ohne Bewährung. Seit seiner Entlassung arbeitet er als Schreiner in einem selbstverwalteten Betrieb in Hamburg.
Für Heinz empfindet Klaus Bewunderung, weil dieser „diese Existenz auf Widerruf“ schon seit vier Jahren aushält, weil es ihm trotzdem gelingt, kleine Zukunftsträume zu entwickeln. „Aber in zwei, drei Jahren sieht er aus wie seine Freundin.“ Die Fingerkuppen der 25jährigen Frau, die das Leben von Heinz, obwohl sie selbst nicht gesucht wird, seit vier Jahren teilt, sind mit Hornhaut gepflastert und blutverkrustet - vom vielen Kauen. Irgendwo muß die innere Spannung abgelassen werden, und sei's am eigenen Körper. Abneigung hingegen verspürt Klaus für Michael. Nach seinem Urteil „ein typischer halbstarker Ganove, der für zehn Mark Beute macht und für 1.000 Mark Schaden verursacht.“ Michael, 22 Jahre alt, wird seit einem Jahr wegen Einbruchs und Autodiebstahls gesucht. Stolz erzählt er, daß er bis vor einem halben Jahr in Spanien gewesen sei. Dann wurde ihm der Boden dort zu heiß, „denn im Vereinigten Europa arbeiten alle Bullen Hand in Hand“. Heimweh war es nicht, daß Michael wieder nach Deutschland trieb. Daß Michael im Gefängnis landen wird, steht für Klaus fest. „Einer, der wie er auf der Straße und vom Schnorren lebt, hat keine Chance. Irgendwann kommt eine Kontrolle und dann heißt's: Ab in den Kahn...“
Die Chancen von Heinz weiterhin unentdeckt zu bleiben, stehen besser. Er lebt schon lange nicht mehr vom Schnorren. Er putzt Kneipen, kellnert auf Festveranstaltungen; Tätigkeiten, bei denen man keine Lohnsteuerkarte braucht. In seiner freien Zeit gibt er sich seinen Tagträumen hin. Er träumt von einem eigenen Paß - der alte ist abgelaufen. Er erzählt von der Fahrradwerkstatt, die er, nachdem der Haftbefehl aufgehoben sein wird, eröffnen will. Doch die Basis seiner Träume ist so schwankend wie sein Leben: Heute will er die Werkstatt eröffnen, wenn sein Verbrechen nach zehn Jahren verjährt ist. Morgen will er es tun, wenn eine Verurteilung in Abwesenheit erreicht und die Strafe nach fünf Jahren verjährt ist. „Schon hundert Mal habe ich ihm erklärt“, sagt sein Anwalt, „daß eine Verurteilung in Abwesenheit nicht möglich ist. Aber immer wieder spricht er mich darauf an. Es scheint seine einzige Möglichkeit zu sein, die Zeit der Verfolgung auf ein für ihn erträgliches Maß zu reduzieren.“
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