Die AL ist zur Berliner Alternative geworden

In den Berliner Stadtbezirken fand der eigentliche Triumph der Alternativen Liste statt / Die von der SPD vorgetragenen Grundprobleme einer rot-grünen Koalition - Gewalt, Alliierte, Bundesbindung Berlins - scheinen nicht unüberwindlich  ■  Aus Berlin Klaus Hartung

Der Erfolg der „Republikaner“ und die Dramatik der Regierungsbildungs-arithmetik überdeckt den Triumph der Alternativen. Zu Unrecht. Sie haben nicht nur für das Abgeordnetenhaus 1,2 Prozent zugewinnen können - ihr eigentlicher Wahlsieg ist auf der Bezirksebene zu finden. 1985 hatte die AL 68 Bezirksmandate, jetzt eroberte sie 80 Sitze in den Bezirksverordnetenversammlungen - der prozentual höchste Zugewinn aller Parteien (wenn man den Start der Republikaner von 0 auf 36 Sitze ausklammert). Eine einzige Einbuße mußten sie in der SPD-Hochburg Spandau hinnehmen - die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Die Alternativen sind mit dem Bezirks-Wahlergebnis eindeutig zu einer innerstädtischen Partei geworden: Die Steigerungsrate in den innerstädtischen Bezirken liegt bei 22 Prozent gegenüber 19 Prozent der Restpartei - der Unterschied ist umso deutlicher, da Kreuzberg mit seinem absolut höchsten Zugewinn an alternativen Stimmen hier zu den Randbezirken gerechnet wird. Schlüsselbezirk Kreuzberg

Überhaupt Kreuzberg: Der Wahlerfolg der Alternativen in dem sogenannten Problembezirk, beziehungsweise in der Bastion des sozialrevolutionären Lagers, hat Schlüsselcharakter. Überspitzt gesagt, ist die AL gegen die real existierende AL gewählt worden. Insbesondere in Kreuzberg lief vor der Wahl eine linke Wahlenthaltungskampagne - mit dem Motto: „Die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.“ Vor allem in diesen Bezirk wurden die Alternativen als „systemerhaltend“ angegriffen. Auf Wahlveranstaltungen bekamen AL-Kandidaten genauso wie die Vertreter aller anderen Parteien Volkszorn und Wählerschelte ab, nicht zuletzt wegen des leeren und lahmen Wahlkampfes. Gleichwohl kam im Wahlkreis2 der AL -Vertreter Helms, ein populärer und populistischer Drucker, auf 32,9 Prozent. Insgesamt eroberte die AL 14 Sitze in der Bezirksverordnetenversammlung und ist damit die zweitstärkste Fraktion. Dieses Ergebnis ist umso erstaunlicher, weil Kreuzberg zugleich die geringste Wahlbeteiligung erbracht hat: 71,5 Prozent Wahlbeteiligung gegenüber 79,6 Prozent insgesamt. Die Nichtwähler wären damit die zweitstärkste Partei in Kreuzberg.

Die Behauptung jedoch, die Wahlenthaltung sei hauptsächlich der AL zugute gekommen, wäre dabei zu einfach. Wahrscheinlicher ist eher, daß die Alternativen gerade einen Teil ihrer früheren Stammwähler verloren haben. Indiz: vor der Wahl war das Thema in den linken Kneipen die Nichtwahl; nach der Wahl herrschte das große Bedauern, nicht gewählt zu haben - wegen der Republikaner. Gerade Kreuzberg scheint zu bestätigen, daß die AL nicht mehr nur Lobby ihres alternativen Gettos ist, sondern sich zur Berliner Partei gemausert hat.

Nach der Wahl war die AL die erste Partei, die die Regierungsbildung, die Koalitionsfrage, auf die Tagesordnung setzte, bevor sich die SPD vom Sieg und die CDU von der Niederlage erholt hatten. In der ersten Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses (GA) war sofort klar, daß die AL ernsthaft mit der SPD verhandeln wird. Christian Ströbele, bewährter Anti-Sozialdemokrat: „Es gibt eine rot -grüne Mehrheit in der Stadt und (in der Mitgliederversammlung der AL) muß der SPD gezeigt werden, daß Rot-Grün machbar ist.“ Auch die von SPD-Momper eher agressiv vorgetragenen Bruchpunkte - die Gewaltfrage, die Frage der Bundesbindung und die der Allierten - wollte keiner der Sprecher zur Ideologie erheben. Kaum einer sah da ernsthafte Schwierigkeiten. Wie ernst es der AL mit der Koalitionsfrage zu sein scheint, zeigt ein kluger politischer Schritt: die Partei will parallel zu den Verhandlungen eine öffentliche Auseinandersetzung organisieren; Großveranstaltung über

rot-grüne Perspektiven zu den Problemen der Stadt, getragen von SPD und AL-Vertretern.

Streit zeichnet sich um die Frage der Zusammensetzung der Verhandlungskommission ab: Hier geht es darum, ob der GA, der eher linksamtliche Parteikern, die Verhandlung führt unter Beteiligung der Fraktion, oder ob die realpolitische Fraktion federführend sein soll. Zweiter Dissens: ob die AL für eine Koalition oder für die Tolerierung eines SPD -Minderheitensenats optieren soll. Letzteres ist durchaus auch eine befristete pragmatische Alternative bei der SPD. Ironischerweise hat nun auch die CDU, nachdem sie offenbar in Panik vorab auf das Amt des Regierenden Bürgermeisters verzichtete, der SPD ein Tolerierungsangebot gemacht. Eine erste Einschätzung der AL-Politik ist allerdings erst heute abend möglich: Die AL-Delegiertenkonferenz wird da über die Verhandlungskommission entscheiden.