: Vakuum in den Alpen
■ Ein Alpental ohne Massentourismus - Paradies oder strukturschwache Region? Das Stura-Tal in Piemont und der Aufbau eines angepaßten Tourismus
Werner Bätzing VAKUUM IN DEN ALPEN
Ein Alpental ohne Massentourismus - Paradies oder strukturschwache Region? Das Stura-Tal in Piemont und der Aufbau eines angepaßten Tourismus
Soll man „Geheimtips“ verraten? Soll man schreiben und erzählen von Alpentälern ohne Massentourismus, auf die man gestoßen ist und die niemand kennt?
Die Antwort darauf lautet meist: keinesfalls! Wenn man dies tut, dann werden doch nur die letzten Paradiese zerstört, die es noch in Europa gibt. Dann kommen Scharen von Menschen angereist, zuerst „Alternativ„-Touristen mit Rucksack und Zelt, die das Terrain vorbereiten, dann „normale“ Touristen mit einfachen Ansprüchen. Allmählich werden dann die Wünsche nach Luxus und Komfort immer größer, die Zahl der Besucher steigt laufend an, und am Schluß sieht ein solches „ursprüngliches“ Tal aus wie überall in den Alpen, mit Bettenburgen und Liftanlagen wie in Zermatt, Grindelwald oder Gastein.
Wenn ich jetzt hier meinen „Geheimtip“ öffentlich vorstelle, dann riskiere ich, dafür kritisiert zu werden. Aber ich mache dies ganz bewußt, weil die Basis dieser Kritik nur teilweise stimmt und teilweise sogar falsch ist. Und falsch ist auch die gängige Vorstellung, solche touristisch unerschlossenen Gebiete seien „Paradiese“, die man von außen ja nicht stören dürfe. Dies ist für Länder der Dritten Welt vielleicht richtig, in Europa ist eine solche Haltung problematisch und weltfremd.
Hier also mein konkreter Hinweis: Das Tal der Stura di Demonte (Südpiemont, Italien) ist ein 600 Quadratkilometer großes Tal in den südlichen Cottischen Alpen/Seealpen, in dem der übliche Alpentourismus nicht zu finden ist. An touristischen „Attraktivitäten“ finden wir hier das Kloster Sant'Anna in 2.000 Meter Höhe, das höchste Kloster Europas und Ziel zahlreicher Pilger im Sommer, aber kein eigentliches Touristenziel, weil sich die Besucher auf Gottesdienste und Picknick auf den nahen Almwiesen konzentrierten. Dann gibt es noch eine schöne Thermalquelle in Bagni di Vinadio, schon seit dem Mittelalter genutzt, die ihren Höhepunkt zu Beginn des 20.Jahrhunderts erlebte. Seitdem geht es mit dem Baden wieder abwärts. Die große Gründerzeitanlage verkommt langsam und verlottert, und heute kann man die Thermalquellen nur mit Krankenschein besuchen Touristen sind nicht erwünscht. Und dann gibt es noch ein Skizentrum in diesem Tal, aber was für eins: Skizentren werden in Italien nicht von Gesellschaften erbaut, die am Betrieb einer solchen Anlage Geld verdienen wollen, sondern von Immobilienfirmen, die Eigentumswohnungen verkaufen möchten. Und so läuft der Prozeß ab: Am Anfang steht das wunderschöne große Projekt eines Skizentrums mit zahlreichen Seilbahnen und Skiliften, attraktiven Abfahrten, zentralen Empfangsgebäuden mit Ladenzeile und Gemeinschaftseinrichtungen, ein großes Hotel sowie mehrere Hochhausblocks mit Eigentumswohnungen. Anschließend beginnt man zuerst mit dem Bau der Eigentumswohnungen, und parallel dazu erstellt man auch schon mal zwei oder drei kleinere Skilifte, um den Verkauf der Wohnungen anzukurbeln. Aber damit hat man es nicht besonders eilig, denn Skilifte und zentrale Gebäude sind eigentlich nur „Werbungskosten“, die minimiert werden müssen. Wenn die meisten Eigentumswohnungen verkauft sind, zieht sich die Baugesellschaft zurück, legt die Skilifte still und denkt gar nicht daran, die Pläne des ursprünglichen Projekts noch zu realisieren.
So lief das auch im Stura-Tal ab, in der Gemeinde Argentera, wo jetzt ein kleines Torso-Skigebiet mit drei bis vier Liften und zahlreichen Wohnblocks mit Eigentumswohnungen steht. Dadurch wird der Talboden auf einer Länge von drei Kilometern furchtbar verschandelt, aber die touristische Anziehungskraft ist gering, weil die Infrastruktur sehr bescheiden ist (es gibt nicht einmal ein Hotel) und die Skilifte häufig aus Spekulationsgründen stillgelegt werden.
Und was gibt es sonst? Zahlreiche Berge mit Höhen um 3.000 Meter, auf die sich selten Bergsteiger verirren, weil die „großen“ Gipfelnahmen fehlen. Pech für das Stura-Tal, daß ein markanter Berg wie das Matterhorn oder der Watzmann fehlt. Die wenigen Alpenvereinshütten, die es hier gibt, sind meist unbewirtschaftet, so daß man sich erst im Tal den Schlüssel besorgen muß. In den Seitentälern gibt es überhaupt keine Übernachtungsmöglichkeiten, so daß man als Wanderer ohne Zelt oder Biwakausrüstung nicht auskommt.
Dabei hat das Tal eigentlich alle Voraussetzungen, in das Tourismusgeschäft groß einzusteigen: In den Seealpen gab es
-genau wie am Grand Paradiso weiter im Norden - ein großes königliches Jagdrevier, in dem sich ein reicher Tierbestand erhalten hatte, weil hier die Jagd das alleinige Privileg des Königs war, der nur selten hier herkam. Dafür war eine umfassende Infrastruktur entstanden mit königlichen Jagdhäusern an den schönsten Stellen sowie zahlreichen Jagdsteigen. Während im Gran-Paradiso-Gebiet daraus seit den zwanziger Jahren touristisches Kapital geschlagen wurde, rührte sich in den Seealpen nichts. Und später kam die ENEL, der staatliche Energiekonzern, und blockierte für 30 Jahre eine Ausweisung der zentralen Seealpen als Nationalpark. Erst als 1980 die großen Speicheranlagen fertiggestellt waren (die Energie aus diesen Wasserkraftanlagen wird als teure „Spitzenlast“ gegen die billigere „Grundlast“ aus dem französischen Atomkraftwerk Super-Phenix ausgetauscht; das ist ein Grund dafür, weshalb die Italiener keine eigenen Atomkraftwerke besitzen), stellte der italienische Staat diese - inzwischen ökologisch entwertete - Gebiet unter Naturschutz. Damit war die Chance verpaßt, aus den Seealpen einen großen, international bekannten Nationalpark zu machen, der auch eine entsprechende touristische Belebung gebracht hätte.
Daß der moderne Tourismus hier nie richtig Fuß gefaßt hat, liegt an folgenden drei Gründen: Erstens ließ der italienische Staat die negative Entwicklung im Alpenraum (mangelnde Konkurrenzfähigkeit der alpinen Landwirtschaft und des Gewerbes) einfach so laufen, ohne dabei mittels Bergbauernförderung oder Förderung strukturschwacher Regionen einzugreifen. Darüber hinaus ließ es allen Spekulationsinvestitionen (wie zum Beispiel bei den Skistationen) völlig freie Hand. Italien steht bei der Förderung des Alpenraumes am Schluß aller Staaten, die Anteil an den Alpen haben. Zweitens: Während die Seealpen früher ein wichtiger Verbindungsraum zwischen der oberitalienischen Tiefebene und der Provence/Riviera (Frankreich) war, entwickelte sich die Staatsgrenze zwischen Italien und Frankreich, die genau über die Seealpen verläuft, im 20.Jahrhundert immer mehr zu einer trennenden Linie, und die gesamte Region des südlichen Piemonts gelangt so in eine Randlage, in ein räumliches Abseits.
Drittens hat die Bevölkerung des Stura-Tals die bestehenden touristischen Möglichkeiten nicht aktiv aufgegriffen, sondern sie abgeblockt, einerseits aus mangelnder Finanzkraft und fehlendem Know-how, andererseits aber auch aus einer innovationsfeindlichen Haltung heraus, die starr am Alten festhält und gegen alles Neue sehr mißtrauisch ist.
Ist es nun positiv oder negativ, daß die touristischen Möglichkeiten des Stura-Tals nicht realisiert wurden? Als positiv ist anzusehen, daß dieses Tal seinen urprünglichen Charakter noch relativ bewahrt hat und nicht so aussieht wie alle erschlossenen Alpentäler, nämlich stereotyp. Als negativ ist anzusehen, daß die Bevölkerung seit 1900 immer stärker abgenommen hat und daß dabei noch kein Ende abzusehen ist. Überall in den Alpen bricht im 20.Jahrhundert die traditionelle Landwirtschaft zusammen, was immer mit einem großen Bevölkerungsrückgang verbunden ist, sofern nicht neue Arbeitsplätze im Tourismus entstehen. Im Stura -Tal hat der Bevölkerungsrückgang inzwischen ein dramatisches Ausmaß angenommen: In den letzten 100 Jahren ist die Bevölkerung um 70 Prozent zurückgegangen. Das bedeutet, daß zahlreiche Weiler und Dörfer heute unbewohnt sind, daß ganze Seitentäler veröden und daß sich die restliche Bevölkerung immer mehr auf den Talboden der Stura zurückzieht - das eigentliche Gebirge wird menschenleer. Und dieser Prozeß ist immer noch nicht zum Stillstand gekommen.
Bei dieser Situation handelt es sich also nicht um paradiesische Zustände. Eine solche Passivregion, keine 100 Kilometer von Turin entfernt, stellt im intensiv genutzten Europa ein Vakuum dar, das von allen Seiten Kräfte anzieht. Und fragwürdige Großprojekte gibt es genug:
-In den Zeiten der Energiekrise kam die Idee auf, Uran -haltiges Gestein in den Seealpen abzubauen und dann in diesem tal aufzuarbeiten, weil hier ja kaum jemand betroffen wäre. Hätte Italien eine florierende Atomindustrie, dann wäre das Stura-Tal bestimmt Standort einer Wiederaufbereitungsanlage geworden.
-Die Intensivlandwirtschaft der Po-Ebene benötigt immer mehr Wasser. Daher entstand die Idee, das große Talbecken von Demonte im Stura-Tal durch einen riesigen Stausee unter Wasser zu setzen. Damit wäre fast allen Bauern, die es in diesem Tal noch gibt, die Lebensgrundlage entzogen, und das Tal wäre von außen völlig abhängig.
-Die Straßenverbindung Turin - Mittelmeer ist eher schlecht, daher plant man eine neue Autobahnverbindung mit einem Basistunnel durch die Seealpen. Eine Variante will dabei die Trasse durch das Stura-Tal führen, dies würde zwei Drittel des gesamten Tales völlig verändern.
-Genau an der Grenze des Stura-Tals liegt auf französischem Gebiet die große Skiretortenstation Isola 2000 (mit englischem Kapital erbaut, heute in libanesischem Besitz). Seit drei Jahren möchte Isola 2000 auch die direkt benachbarten Hänge im Stura-Tal für seinen Skizirkus erschließen. Wenn das Skigebiet auch von Italien her erreichbar wäre, hätte das Stura-Tal auf einmal ein Skizentrum internationaler Bedeutung!
Jedes dieser Großprojekte würde das Tal von auswärtigem Kapital und Entscheidungsstrukturen abhängig machen und es in kurzer Zeit bis zur Unkenntlichkeit verändern. Eine solche Passivregion stellt also kein Paradies dar, das zu bewahren wäre, sondern ein gefährdetes Vakuum, das Spekulations- und Großprojekte aller Art anzieht, die in dichter besiedelten Regionen nicht mehr durchsetzbar sind. Für das Stura-Tal bedeutet dies, daß es von existentieller Bedeutung sein muß, den Bevölkerungsrückgang zu stoppen und die Bevölkerung wenigstens auf dem heutigen Stand zu halten: Je geringer die Bevölkerung, desto größer der Spielraum für Spekulationsobjekte.
Und jetzt komme ich zum Anfang zurück: Dieses Ziel ist nur mit Hilfe einer touristischen Nutzung zu erreichen, und zwar eines solchen Tourismus, der von einheimischen Kräften aufgebaut und getragen wird, der die Landwirtschaft unterstützt und der dem Charakter des Tales angepaßt ist, ohne ihn zu zerstören. Bisher gibt es dafür zwei konkrete Ansätze. Da ist einmal ein kleines Skilanglaufzentrum in Festiona/Demonte, das von Einheimischen aufgebaut wurde und von ihnen betreut wird und das sich bisher in bescheidenem Rahmen gut entwickelt hat. Die zweite Initiative ist der Weitwanderweg „Grande Traversata delle Alpi/GTA“, der das Tal in sieben Tagesetappen durchquert. Die Übernachtungsmöglichkeiten am Ende jeder Tagesetappe werden von Einheimischen eingerichtet und betreut, so daß der Ertrag dieses Weges vor Ort verbleibt. Da durch den Rückgang der Landwirtschaft inzwischen fast alle Wege langsam verfallen (was besonders in der hochalpinen Region große Probleme schafft), stellt die GTA derzeit fast die einzige Wandermöglichkeit für „normale“ Bergwanderer in diesem Tal dar.
Diese zwei Initiativen sind ein hoffnungsvoller Anfang, der aber weiter verfolgt werden muß, wenn das Ziel der Bevölkerungsstabilisierung erreicht werden soll. Im Grunde stellt dieses Tal gerade wegen seiner fehlenden Erschließung heute eine Besonderheit dar, die von einem angepaßten Tourismus sehr gut genutzt werden könnte. Und da die „Talschaft“, die „comunita montana“, die politische Organisation des gesamten Tales, eine sehr vernünftige Politik betreibt und allen Spekulationsobjekten bisher sehr skeptisch gegenüber eingestellt war, besteht die Hoffnung, daß der Aufschwung eines angepaßten Tourismus nicht zu touristischen Spekulationsobjekten und zu der alpentypischen Vollerschließung führt.
Das größte Problem besteht derzeit darin, daß sich die einheimische Bevölkerung noch zurückhaltend und abwartend verhält und nicht weiß, ob solche Tourismusformen für sie wirklich eine Perspektive darstellen. Dies liegt auch daran, daß bisher die Nachfrage nicht sehr stark war. In der italienischen Mentalität haben solche Tourismusformen noch einen sehr geringen Stellenwert, und das GTA-Projekt wäre ohne ausländische „Unterstützung“ (vor allem zahlreiche französische und deutsche Wanderer) wahrscheinlich gescheitert. Daher muß sich ein solcher angepaßter Tourismus im Stura-Tal zuerst einmal an Ausländer wenden, bevor dann in einigen Jahren hoffentlich auch das Interesse der Italiener steigen wird.
Aus diesem Grunde halte ich mit meinem „Geheimtip“ eines kaum erschlossenen Alpentals nicht hinter dem Berg, sondern propagiere es öffentlich, damit dieses Tal eine Zukunftsperspektive gewinnt und nicht durch Spekulationsobjekte zerstört wird.
W.Bätzing: „Die GTA - der große Weitwanderweg durch die piemontesischen Alpen“, Teil 2: „Der Süden“, ca. 120 Seiten, ca. 22 DM, erscheint im März 1989 bei: I.W.F., Oederstraße 23, 2900 Oldenburg.
W.Bätzing: „Die unbewältigte Gegenwart als Zerfall einer traditionsträchtigen Alpenregion. Sozio-kulturelle und ökonomische Probleme der Valle Stura di Demonte (Piemont) und Perspektiven für die Zukunftsorientierung“, Bern 1988, 356 Seiten, 30 sFR. Bestelladresse: Geographica Bernensia, Hallerstraße 12, CH-3012 Bern
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