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Kabul unter dem Kriegsrecht

■ Kurz vor dem Abzug des letzten sowjetischen Soldaten gibt das Regime in Kabul Waffen an die Parteimitglieder aus / Schewardnadse in Pakistan / Direkte Gespräche mit dem Widerstand?

Islamabad/Kabul (dpa/wps/afp) - Die afghanische Hauptstadt ist nach dem Abzug nahezu aller sowjetischen Truppen am Sonntag unter Kriegsrecht gestellt worden. Derweil spielt die Sowjetunion mit dem Besuch des sowjetischen Außenministers Schewardnadse in Pakistan im diplomatischen Poker um die Macht in Kabul ihre höchste Karte aus. Schewarnadses Visite am Wochenende ist der erste Besuch eines sowjetsichen Außenministers in dem Nachbarland Afghanistans seit zwanzig Jahren.

Die afghanische Regierung begründete die Ausrufung des Kriegsrecht am Sonntag offiziell lediglich damit, Friedesvorschläge seien nicht die einzigen Mittel, die Kabul zur Verfügung ständen. Laut Tass sind inzwischen Waffen an alle Mitglieder der Regierungspartei ausgegeben worden. Die Demokratische Volkspartei zählt offiziell 60.000 Anhänger. Die in der Hauptstadt verbliebenen Soldaten wurden am Samstag auf 3000 bis 5000 Mann geschätzt. Als letzte werden Kabul nach Ansicht von Beobachtern 300 Fallschirmjäger, die den Flughafen bewachen, als letzte verlassen.

Schwere Kampfhandlungen wurden am Sonnabend aus allen Landesteilen gemeldet, vornehmlich aber aus dem Süden, Südosten und Westen. Die heftigsten Gefechte tobten nach afghanischen Rundfunksendungen und Mitteilungen aus dem Umkreis der letzten Diplomaten, die am Sonnabend Kabul verließen, in der Provinz Nangarhar nahe der pakistanischen Grenze. Ehefrau Tochter des afghanischen Ministerpräsidenten Schark sind unterdessen nach Neu Delhi geflogen. „Nur mit der Hilfe der UNO kann ein furchtbares Unglück verhindert werden, das unschuldigen Afghanen droht“, mit diesen Worten wandte sich Shark in einem Brief an UN-Generalsekretär Perez de Cuellar.

Die UNO plant unterdessen die belagerte Stadt Kabul mit einer Lebensmittelbrücke zu versorgen. Nach UNO-Angaben sind dort etwa 350.000 Menschen -etwa ein Zehntel der Bevölkerung - vom Hunger bedroht. Der Leiter des UNO-Hilfswerks für Afghanistan Prinz Sadruddin Aga Khan wollte am Montag mit den in Peschawar lebenden Rebellenführern sprechen und ihre Zustimmung zu den UNO- lieferungen einholen.

Im Rahmen einer ursprünglich geplanten eintägigen Visite des sowjetischen Außenministers waren lediglich Gespräche mit seinem pakistanischen Kollegen sowie ein Treffen mit Ministerpräsidentin Benazir Bhutto und Staatspräsident Ghulam Ishaq khan geplant. Doch allen Anzeichen nach hat Schewardnadse seinen Besuch um einen Tag verlängert, um mit den von Pakistan unterstützten Mudjahedingruppen über die Zusammensetzung einer zukünftigen Regierung in Kabul zu verhandeln. Bereits am kommenden Freitag wollen die Mudjahedin in Islamabads Nachbar-Stadt Rawalpindi eine Regierung bilden, die nach dem Abzug der Sowjets aus Afghanistan am 15. Februar die Amtsgeschäfte übernehmen soll.

Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des afghanischen Widerstands über die Teilung der Macht mit den von Iran aus operierenden Mudschahedein sind allerdings noch nicht aus dem Weg geräumt. Wie schon Moskaus Unterhändler, Vize -Außenminister Woronzow weilt inzwischen auch der Führer der in Pakistan ansässigen sunnitischen Rebellen Sibghatullah Mujaddidi in Teheran, um mit den dort residierenden schiitischen Widerstandskämpfern einen Kompromiß auszuhandeln. Während sich der pakistanische Außenminister Yakoob Khan und die neue pakistanische Premierministerin Benazir Bhutto auf diplomatischer Ebene um einen Ausgleich zwischen Mudschahedin und dem pro -sowjetischen Regime bemühen, gehen die Waffenschiebereien über die afghanische Grenze ungestört weiter. Nach Augenzeugenberichten sind erst am Freitag 15 Pakistanische Lastwagen mit US-Waffenlieferungen, eskortiert von pakistanischen und US-amerikanischen Beamten, bei Torkam über die Grenze gerollt.

Die Waffen seien für eine Offensive auf die noch immer umkämpfte Garnisonsstadt Dschalalabad bestimmt gewesen, hieß es. Bislang haben die afghanischen Rebellen US-Militärhilfe in Höhe von 2 Milliarden Dollar kassiert. Erst am Sonnabend kritisierte Moskau erneut die pakistanische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans und die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur Tass fragte: „Was hat Pakistan getan, um seine Verpflichtungen aus den Genfer Abkommen einzuhalten.“ Die diplomatische Initiativen der neuen pakistanischen Bhutto-Regierung zielen zwar auf eine Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion - zumal Moskauunterhändler Woronzow der neuen Premierministerin Bhutto vor einem Monat in Islamabad großzügige Wirtschaftshilfe in Aussicht gestellt hat, falls sie ihre Unterstützung des afghanischen Widerstand einstelle. Doch mit den Milliardenkrediten aus Washington und den saudi -arabischen Geldflüssen, auf die sich Pakistan während der letzten zehn Kriegsjahre verlassen konnte, kann auch der sowjetische Außenminister Schewardnadse nicht konkurrieren. Der pakistanische Geheimdienst ISI, das Ziehkind des Ex -Diktators Zia-ul-Haq untergräbt die diplomatischen Initiativen der jungen Pakistan-Peoples-Party-Regierung. Geheimdienst-Chef General Hamid Gul war noch von dem im vergangenen August verstorbenen Präsidenten General Zia-ul -Haq ernannt worden, der es einmal als sein Ziel bezeichnete, nach einem Fall der afghanischen Hauptstadt „zum Beten in eine kabuler Moschee zu gehen“.

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