: Die Lust siegt über das Grauen
■ Ein Blick auf das dritte Heft von Lettre International
Arno Widmann
Politisch-literarische Zeitschriften sind bei uns bevorzugt geschlechtslos. Besser: geschlechtsteillos. Sexualität und Erotik werden auf Sonderhefte verschoben, in denen sie dann desto drastischer ihre Geistlosigkeit vorführen dürfen. Die dritte Nummer von 'Lettre International‘ ist da einen ganz anderen Weg gegangen. Neben einem Beitrag von Timothy Garton Ash „Der Niedergang des sowjetischen Imperiums“, von dem Arnulf Baring schrieb, er allein lohne schon den Kauf des ganzen Heftes, stehen Texte, die sich in aller gewünschten und auch wünschenswerten Klarheit über das auslassen, was, wie Ruth Berlau in ihrer hier abgedruckten Erzählung schreibt, „jedes Tier kann“. In welcher vergleichbaren Zeitschrift finden sich Passagen wie diese: “...ist ein einziger Blick und dieser Blick die intimste gröbste Berührung ich trenne mit meinen Händen um die Mündung ihres Arsches zu befreien die zwei Stücke sanften dicken Fleisches meine Zunge ölt ihren dunklen Rand ein schneidet dort ein wühlt ihre Schwelle...“ Sicher, Kunst soll es sein. Das markiert schon die Interpunktion. Aber der Verzicht auf Punkt und Komma erzeugt nicht immer einen Sog, sondern wirkt manchmal auch hemmend. Der Autor Michel Surya verläßt sich zu sehr darauf, den richtigen, den hohen Ton angestimmt zu haben, vernachlässigt darüber den Bau der Erzählung von dieser Befriedigung. Aber das ist Beckmesserei angesichts der Qualität seiner Darstellung. Weniger überzeugend sein Nachwort.
Unmittelbar vor Suryas erotischer Eruption ein Artikel, der auch schon den Kauf des ganzen Heftes wert wäre: Leo Bersani, „Ist das Rectum ein Grab?“ Bersani schreibt über „die Neuerfindung des Sex und die Fallen der Anatomie - zur amerikanischen Diskussion um Aids und Homosexualität“. Ein Thema, bei dem ich glaubte, da wäre nun wirklich schon alles gesagt worden. Ich hatte den Artikel nicht lesen wollen. Aber jetzt, nachdem ich ihn gelesen habe, notiere ich mir, was es von Bersani sonst noch gibt und werde alles Lieferbare bestellen.
Bersani geht zunächst auf die Ideologisierungen des Schwulseins ein, kritisch und scharf. „So finde ich es beispielsweise nicht besonders hilfreich, wenn Autoren wie Dennis Altman behaupten, eine Schwulen-Sauna zeichne sich aus durch 'eine Art Whitmanscher Demokratie, durch das Bedürfnis, andere Männer in einer Art Brüderlichkeit kennen und verstehen zu lernen, die sich grundlegend von der männlichen Versklavung im Hinblick auf Status, Rangordnung und Konkurrenzverhalten unterscheidet, wie sie für die Welt draußen weithin charakteristisch ist‘. Jeder, der einmal eine solche Schwulen-Sauna besucht hat, weiß nur zu gut, daß hier ein Statusdenken, eine hierarchische Rangordnung und ein Konkurrenzverhalten herrschen (oder herrschte), wie man sie sich rigider kaum vorstellen kann. Aussehen, Muskeln, Körperbehaarung, Schwanzgröße und Arsch sind die entscheidenden Kriterien dafür, wie glücklich man in den wenigen Stunden eines solchen Saunabesuches ist, und Ablehnung und Zurückweisung, in der Regel von zwei oder höchstens drei kurzen Worten begleitet, erfolgen hier unvermittelt und oft mit brutaler Härte ohne die zivilisierten Scheinheiligkeiten, mit denen wir im normalen Umgang miteinander unwillkommene Bekanntschaften abblocken und vermeiden.“ So ähnlich stellte meine heterosexuelle Phantasie das sich schon vor. Schließlich, warum soll es in einer Schwulen-Sauna lieblicher zugehen als auf anderen Aufreißermärkten?
Bersani räumt eine beschönigende Fabel nach der anderen beiseite. Eine Passage wünsche ich mir im Kopf eines jeden Theaterbesuchers. Vielleicht würde das dazu führen, unsere Regisseure abzubringen von den Blödsinnigkeiten, die sie sich - nicht nur, was das angeht - seit inzwischen fast zwanzig Jahren leisten: „Auch die Einstellung, die man als 'camp‘ bezeichnet, ist in erster Linie parodistisch und vielleicht auf einer Dinnerparty angebracht, aber wenn man jemanden aufreißen will, dann verzichtet man darauf. Dabei ist das, was schwule Männer unter 'camp‘ verstehen, weitgehend eine Parodie weiblichen Verhaltens - was natürlich eine Reihe neuer Fragen aufwirft. Wenn Schwule eine bestimmte Form von Feminität parodieren, die nach verbreiteter Auffassung selbst ein komplexes soziales Konstrukt darstellt, dann drückt sich darin nicht nur eine gewisse Feindschaft gegenüber Frauen aus, die wohl jeder Mann verspürt (...); gleichzeitig jedoch könnte dieses Verhalten paradoxerweise gerade dazu beitragen, dieses Image für die Frauen selbst zu zerstören... Der 'weibische‘ Schwule desublimiert und desexualisiert auf diese Weise eine bestimmte Form von Weiblichkeit, wie sie insbesondere von Filmschauspielerinnen verkörpert wird, die der Schwule auf seine Weise liebevoll, aber durchaus treffend parodiert. Und wenn er diese Parodie als erregend empfindet, dann deshalb, weil sie unvermeidlich mit bestimmten Haßgefühlen verbunden ist.“ Daß es gerade die Rolle des ausgeprägt Weiblichen ist, daß es darum gehen könnte, daß Männer Frauen gerade die auch noch nehmen, das erwähnt Bersani nicht. So sehr sich der Gedanke bei der Lektüre seines Textes aufdrängt, Bersani bleibt ihm fern. Ob ihm das Weibliche so gleichgültig ist?
Wer Bersanis Text aus der Hand legt, wird besser Bescheid wissen über die Unterschiede zwischen heterosexuellem und schwulem Sex. Durch das, was Bersani sagt und durch das wie er es sagt. Wie hieß es bei der Sauna: „Jeder der einmal eine solche Schwulen-Sauna besucht hat...“, ein paar Seiten weiter schreibt er: „Wenn die Frau oben liegt, dann heißt das schließlich nichts anderes, als daß sie zur Abwechslung eine Weile die dominierende Rolle spielen und das Gefühl der Macht auskosten darf - obwohl der Mann, wie uns zahlreiche Pornofilme deutlich zeigen, auch dann, wenn er unten liegt, die scheinbar aufgegebene Aggressivität in den Stoßbewegungen seines Penis konzentrieren kann.“ Das „wie uns zahlreiche Pornofilme deutlich zeigen“, erlaubt es einen Einblick in Bersanis reale homosexuelle Exklusivität oder ist es kokett oder Verdrängung? Jedenfalls markiert es eine Differenz.
Bersanis Artikel zielt auf das, was er „Neuerfindung des Sex“ nennt, eine etwas unglückliche Formulierung. Er präzisiert das und spricht von „einem radikal neuen Verständnis der Lustfähigkeit des menschlichen Körpers“. Was er damit meint, bleibt einigermaßen im Dunkel, der unerfahren-keusche Leser ahnt de Sadesche Abgründe, weiß nichts so recht anzufangen mit der „Negierung der positiven Bedeutung, die die Erfahrung der Machtlosigkeit“ haben kann. Zumal Bersani nicht darauf eingeht, daß für die überwältigende Mehrheit der Menschen die zentrale Lebenserfahrung die der Machtlosigkeit ist. Seine Schlußsätze, die etwas davon ahnen lassen, worum es ihm geht, verlieren an Überzeugungskraft, wenn man daran denkt, eine wie geringe Rolle die Ichinstanzen und die Macht im Leben eines Durchschnittsmenschen - männlich oder weiblich spielen: die geheiligte Wertvorstellung des Ich-Seins schreibt Bersani - muß „verantwortlich gemacht werden für die erstaunliche Bereitschaft des Menschen, andere zu töten, um die Ernsthaftigkeit seiner eigenen Aussagen aufrechtzuerhalten. Das Ich ist eine durchaus praktische Einrichtung, aber wenn man ihm den Status eines ethischen Ideals verleiht, dann dient es der Rechtfertigung von Gewalt. Wenn die Sexualität in dem Sinne dysfunktional ist, daß sie Menschen zusammenführt, nur um sie dann in Selbstauflösung und solipsistische jouissance zu stürzen, dann könnte man sie auch als das vielleicht wichtigste Beispiel von Gewaltlosigkeit im Sinne einer Psychohygiene auffassen.“ Ein sicher sehr anfechtbarer Gedankengang. Getötet haben die meisten Menschen nicht, um die Ernsthaftigkeit ihrer eigenen Aussagen aufrechtzuerhalten, sondern aus Kadavergehorsam. Anders gesagt, weil es ihnen gelang, im nichtsexuellen Bereich der Erfahrung von Machtlosigkeit eine positive Bedeutung zu geben. Mir scheint diese Sicht der Dinge so plausibel, daß ich mir den Kopf darüber zerbreche, wie Bersani das hat umstellen können, ja, warum er es hat tun müssen. Ich bin zu keiner Lösung gekommen. Aber vielleicht gibt es Leser, die dahintergekommen sind. Bersanis Artikel jedenfalls sei all unseren Reflexlesern, die sich auf das Thema Sexismus spezialisiert zu haben scheinen, wärmstens empfohlen.
Es gibt noch ein paar Texte, die um Barings Floskel weiter zu strapazieren, „allein schon den Kauf des ganzen Heftes lohnten“. Da sind die zwei kurzen Seiten von Adam Zagajewski, die „Geheimrede des Vorsitzenden“, die man immer atemloser werdend durchfliegt, Jürgen Fuchs‘ kunstvoll verzögernde Gedanken zum Thema „wenn Ehemalige wiederkommen“ nach Chile und Ost-Berlin? Georges Batailles pathetisch -vertrackter Essay „Die Erotik oder die Infragestellung des Seins“. „Fragestellung“ hätte Bataille bestimmt sehr gefallen. Da ist auch Oliver Sacks „Revolution der Gehörlosen“. Ein Artikel, den man auch im neuesten 'Freibeuter‘ lesen kann.
Es gibt aber noch etwas, was jede Lettre-Ausgabe bisher zu einer ganz besonderen Attraktion macht: Umschlag und Illustrationen. Das erste Heft wurde illustriert von Jörg Immendorff, das zweite von Markus Lüpertz, das dritte jetzt von A.R. Penck, und man wird gespannt sein dürfen, ob in Heft vier Baselitz die Viererbande vollmachen wird. Natürlich muß man bei einer solchen Besetzung davon ausgehen, daß von „Illustrationen“ im üblichen Sinne, nicht die Rede sein kann. Die Abbildungen verdoppeln nirgends das, was im Text schon zu finden ist. Sie stehen immer frei zu ihm. Gerade in diesem Heft aber hat man trotzdem den Eindruck, daß einige der Abbildungen eigens für die Beiträge gemacht wurden. Zum Beispiel die zweite im Fuchs-Artikel: das aus einem kleineren linken Teil und einem größeren rechten bestehende Männchen, dessen Rückgrat Stacheldraht sein könnte... Je länger ich drauf blicke, desto dichter rückt die Zeichnung an den Text. Auch der Jongleur in Ashs Artikel gestattet sehr schnell einen Rückschluß auf die Balanceakte des niedergehenden Sowjetimperiums. Aber natürlich stellen diese Gedanken sich erst später ein. Den ersten Eindruck bestimmt das Spielerische, Mobilehafte von Pencks Zeichnungen. Sie sind ja nicht nur für Lettre geschaffen, sondern sie sind auch wie für Lettre geschaffen. Sie wirken zugänglich, laden ein. Wem vor den Textmassen graut, dem machen sie Lust, sich heranzuwagen. Freilich, einfach ist nichts: Die Zeichnungen sind allemal rätselhafter als die Texte.
PS: Die taz hat die deutsche Ausgabe von 'Lettre International‘ möglich gemacht. Es ist schade, und es sagt fast alles über den Zustand dieser Zeitung, daß sie so wenig damit anzufangen weiß.
Lettre International Heft 3, 98 große Seiten mit zahlreichen Abbildungen, Dominicusstraße 3, 1000 Berlin 62
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