: Ich werde es Dir zeigen!
■ Robert Parrish über seine Arbeit mit Charlie Chaplin
Robert Parrish arbeitete als Kinderdarsteller in 'City Lights‘, als Kleindarsteller in Filmen u.a. von John Ford, als Cutter bei John Ford, George Cukor. Er bekam einen Oskar für den besten Filmschnitt für 'Body and Soul‘. Ab 1950 führte er selbst Regie u.a. bei 'Flammen über Fernost‘ mit Gregory Peck und bei 'Heiße Grenze‘ mit Robert Mitchum. Seine amüsante Autobiographie trägt den bezeichnenden Titel 'Growing up in Hollywood‘. In einem Interview erzählte er Gerhard Midding vom Regisseur Charlie Chaplin.
Gerhard Midding: Mr. Parrish, ich glaube, Sie spielten Ihre erste kleine Filmrolle in Chaplins „City Lights„ Wie kam es dazu?
Robert Parrish: Ich bekam die Rolle, weil ich sehr gut Erbsen aus einem Blasrohr pusten konnte! Eines Tages kam jemand aus Chaplins Besetzungsbüro in unsere Schule und fragte, wer von uns Lust hätte, in einem Film mit dem Titel „City Lights“ mitzuspielen. Natürlich meldeten sich die meisten von uns. Als er dann aber fragte, wer von uns besonders gut Erbsen aus einem Rohr blasen konnte, stiegen meine Chancen gewaltig und ich bekam den Part des kleinen Zeitungsjungen, der den Tramp auf der Straße piesackt.
Wie arbeitete Chaplin als Regisseur? Und wie kombinierte er beide Funktionen - die des Regisseurs und die des Schauspielers?
Damals wußte ich natürlich, daß er Schauspieler war, aber ich wußte nicht, daß er auch Regie führte. Deshalb beeindruckte mich am Drehort zuallererst ein Mann, der ständig in ein riesiges Megaphon brüllte. Von Zeitschriftenphotos wußte ich, daß Regisseure grundsätzlich ein Megaphon bei sich hatten und jedes Wort da rein sprachen. Ich mußte aber ganz überrascht feststellen, daß plötzlich jemand anderes auf den „Regisseur“ zukam und sagte: „Wenn du endlich aufhörst zu brüllen, können wir vielleicht anfangen!“
Diesen Mann erkannte ich sofort als Chaplin, denn er nahm dem Assistenten das Megaphon aus der Hand und führte alsbald eine Pantomime auf: ein Filmregisseur bei der Arbeit. Er tat so, als würde er in das Megaphon sprechen, zuerst von der einen, dann von der anderen Seite. Er lehnte sich auf das Megaphon, um besser nachdenken zu können und verhakte schließlich seinen Fuß darunter und humpelte so auf dem set umher. Das ganze Team bog sich vor Lachen.
Der Mann vom Besetzungsbüro hatte mir als einzige Anweisung gesagt: „Mach‘ nur genau, was Mr. Chaplin dir sagt!“ Gleich nach der Pantomime kam Chaplin, um mir und einem anderen Kinderdarsteller die Szene zu erklären: während der Tramp das blinde Mädchen trifft und ihr über die Straße hilft, sollten wir Zeitungsjungen ihm die Erbsen in den Nacken blasen. Ich wollte Chaplin zeigen, wie gut ich das könne, aber er erwiderte nur: „Nein, ich werde es dir zeigen, wenn wir soweit sind!“ Er hatte ein ungeheures Ego, der Gedanke, nicht alles selbst machen zu können, machte ihn ganz verrückt.
Nun begannen die Proben. Chaplin probte aber nicht nur seinen Part, spielte mit Spazierstock und Hut, lächelte dem blinden Mädchen zu, sondern probte unsere Rollen gleich mit: Er spielte das blinde Mädchen, verwandelte sich wieder zurück in den Tramp, sprang dann wieder auf ihre Seite und spielte das Mädchen, wie ein Derwisch sprang er hin und her, um endlich auch noch die beiden Zeitungsjungen zu verkörpern. Nachdem er mit allem zufrieden war, sagte er schließlich: „Wir drehen!“ und überließ und nur mit dem allergrößten Widerwillen unsere Rollen.
Chaplins Dreharbeit dauerten in der Regel überdurchschnittlich lange. Woran lag das? Arbeitete er nur sehr langsam? Improvisierte er viel? Änderte er im Nachhinein viel?
Unsere Szenen waren, nachdem er sie einige Stunden geprobt hatte, relativ schnell abgedreht. Später sollten wir noch einmal einen Auftritt haben, wiederum in einer Szene mit dem Tramp und dem Mädchen, das inzwischen das Augenlicht wiedererlangt hatte. Wir blieben also weiterhin unter Vertrag, bekamen unsere Gage, obwohl wir wochenlang nichts zu tun hatten, denn Chaplin drehte in chronologischer Reihenfolge. Ich denke, das tat er, weil er gar kein komplettes Drehbuch besaß, sondern nur grundlegende Züge der Handlung im Kopf hatte. Er entwickelte das Drehbuch während der Dreharbeiten, wartete darauf, daß ihm die richtige Eingebung kam und improvisierte im Grunde alles. Bei „City Lights“ wurden die Dreharbeiten dann auch aus den unterschiedlichsten Gründen oft und lange unterbrochen. Als wir endlich unsere zweite Szene drehen sollten, hatten sich mein Kollege und ich erheblich verändert: wir waren ein ganz ordentliches Stück gewachsen! Chaplin regte sich furchtbar auf, denn - um einen Anschlußfehler zu vermeiden - mußte er auch unsere erste Szene noch einmal drehen.
Ich denke, Chaplin stand für etwas, das es in Hollywood sehr selten gab: er war ein „total filmmaker“, einer, der einen größtmöglichen Teil der künstlerischen Verantwortung tragen wollte.
Ja, da war er einzigartig. Meine späteren Erfahrungen als Mitarbeiter von Regisseuren wie John Ford, George Cukor und Max Ophüls, und nicht zuletzt meine eigenen Regiearbeiten haben mich gelehrt, daß Film eine Gemeinschaftsarbeit ist. Ein Großteil der Arbeit eines Regisseurs besteht schon allein darin, andere Leute dazu zu bringen, gute Arbeit zu leisten. Niemand kann einen Film ganz allein machen, aber Chaplin war vielleicht derjenige, der dem Ideal vom totalen, alleinigen Filmemacher am nächsten kam. Er glaubte einfach, daß alles von ihm abhinge.
Später, als ich als Cutter arbeitete, bat er mich gelegentlich, zusammen mit ihm die Muster von „Monsieur Verdoux“ anzuschauen und den besten take auszusuchen. Er konnte ganz wild werden, wenn man in den Szenen auf etwas anderes achtete, als auf sein Spiel!
Dennoch sprach er von „City Lights“ immer als „unser“ Film, obwohl ich damals erst ein Junge von 10, vielleicht 12 Jahren war. Ich erinnere mich, daß ich ihn einmal an der Küste Irlands traf und er mir erzählte, wieviel Geld „unser“ Film bei seiner Wiederaufführung in New York eingespielt hatte. Ich glaube, das war etwa 40 Jahre nach den Dreharbeiten zu „City Lights“, und er hatte die Filmarbeit praktisch aufgegeben und schrieb an seiner Autobiographie. Wir tauschten unsere Erinnerungen an den Film aus und er fragte mich: „Weißt du eigentlich, wie frustrierend es ist, daß man nicht zur gleichen Zeit vor und hinter der Kamera sein kann? Und weißt du auch, wie schrecklich das Gefühl ist, am Ende eines Drehtags das Filmmaterial ins Kopierwerk zu geben, wo es dann von irgendeinem jungen, unerfahrenen Burschen bearbeitet wird und du kannst nie sicher sein, daß er die Sache richtig macht und dir deine Arbeit nicht ruiniert?“
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