Es sind unsere Verhältnisse-betr.: "Hungerstreik der RAF-Gefangenen", taz vom 2.2.89

betr.: „Hungerstreik der RAF-Gefangenen“, taz vom 2.2.89

„Schluß mit dieser 18 Jahre langen Tortur.“ Das fordern die Gefangenen der Roten Armee Fraktion.

Nun haben wir den Kinofilm Stammheim gesehen. Doch dazu waren noch weitere Ergänzungen notwendig. Stammheim zeigte weder politische Hintergründe, die zwar aus „Authentizitätsgründen“ aus der Darstellung des unmittelbaren Prozeßgeschehens ausgeschlossen werden mußten, doch zum Verstehen sowohl der RAF-Aktivitäten als auch des Verhaltens der Angeklagten gehörten sie eigentlich zwingend zum erklärenden Teil des Films. Die gezeigten Haftbedingungen (Radios, dicke Bücherregale, gemeinsame Treffs der Angeklagten) und die „lockeren“ Auftritte der Angeklagten vor Gericht und im Sicherheitstrakt könnten eher einem Werbefilm der Bundesregierung über bundesdeutschen Strafvollzug entsprungen sein. Mein damaliges Gesamturteil: Empfehlenswert für Rhetorikfetischisten und angehende Psychologen.

Doch wie war die politische Wirklichkeit vor dem Prozeß? Es waren die StudentInnen, denen es Ende der sechziger Jahre gelang, mit ihren Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg den Boykott der bundesrepublikanischen Presse zu durchbrechen, ihre Demonstrationen zu Ereignissen zu machen, mit denen sich die Öffentlichkeit beschäftigen mußte. Ulrike M.Meinhoff, eine der Hauptangeklagten, stellte fest: „Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Brandstiftungen hier verurteilen, nicht aber die Bomben auf Vietnam, nicht den Terror in Persien, nicht die Folter in Südafrika, deren Argumentation ist heuchlerisch.“

Die „Mai-Offensive“ der RAF, Antwort auf die Wiederaufnahme der Luftangriffe der USA in Vietnam, endete mit der Verhaftung des sogenannten harten Kerns (in Frankfurt, Hamburg und Hannover). Am 16. Juni 1972 wurde Ulrike M. Meinhof in einem toten Trakt des Gefängnisses Köln-Ossendorf für 237 Tage isoliert. Dies geschah erneut im Dezember 1973 und im Februar 1974. Das Bedürfnis der Staatsgewalt, alle Lebensäußerungen eines Gefangenen total zu kontrollieren, in der körperlichen Bewegung, der sinnlichen Wahrnehmung, der Kommunikation, der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse (wie Schlaf), konstruierte für Ulrike M.Meinhof (und für andere U-Häftlinge der RAF) eine eigens für diese Kontrolle erfundene Umwelt.

Am 10. August 1973 schrieb der Rechtsanwalt Ulrich K.Preuss an den Präsidenten des Justizvollzugsamtes Nordrhein -Westfalen: „Die völlige Isolierung des Trakts in Verbindung mit seiner Leere bewirken eine spezifische Form akustischer Isolation. Zu der räumlichen und akustischen Isolation (des Trakts) tritt hinzu, daß die Zellen meiner Mandantinnen sowie die gesamte Zimmereinrichtung - mit Ausnahme der Zellentür - vollständig in weißer Farbe geölt sind; daß sich das Zellenfenster zunächst gar nicht, später nur mit einem winzigen Spalt öffnen ließ und mit einem feinmaschigen Fliegendraht verhängt war; daß die in der Zelle befindliche weiße Neonbeleuchtung nachts bei Frau Meinhof nicht ausgeschaltet wurde; schließlich, daß die Zelle von Frau Meinhof in den Wintermonaten permanent unterkühlt war. In dieser akustischen und visuellen Isolierung haben meine Mandantinnen lediglich den für die Essensversorgung unabdingbaren minimalen akustischen und sozialen Kontakt mit den Vollzugsbeamtinnen. Sie leben praktisch 24 Stunden lang ohne eine unterscheidbare Umwelt. So ist es beispielsweise meinen Mandantinnen verboten, Plakate, Bilder, Tabellen, o.ä. an die fahl-weißen Wände zu hängen.“

Ulrike M. Meinhof beschrieb ihre eigene Situation aus dem Toten Trakt in der Zeit vom 16.6.1972 bis 9.2.1973 so: „Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen) - das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen wie Backobst z.B. - das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich unter Strom, man würde ferngesteuert - das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt - das Gefühl, man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht mehr halten kann - das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf, die Zelle fährt; nachmittags, wenn die Sonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen. Man kann das Gefühl des Fahrens nicht absetzen. Man kann nicht klären, ob man vor Fieber oder vor Kälte zittert - man kann nicht klären, warum man zittert man friert“ usw.

Dabei bestimmte das Grundgesetz in Art.104, Abs.1: „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden“, ja die Würde des Menschen gilt nach dem Wortlaut der Verfassung dieses Staates als unantastbar.

So schrieb die Evangelische Studentengemeinde Clausthal an den Justizminister Posser und an die Staatsgewalt Köln im Mai 1976 u.a.: „Nachdem Sie bisher so hartnäckig alle Anträge und Eingaben zur Haftverschonung von K.H.Roth abgelehnt haben, können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, daß Sie den Tod dieses Untersuchungsgefangenen eiskalt einkalkulieren. Die Todesstrafe ist zwar abgeschafft in unserem Lande, aber der kalkulierte Tod auf Raten tritt an deren Stelle.“

Was hat diese Menschen so weit gebracht? Es waren die deutschen Verhältnisse. Der Extremismus derjenigen, die alles für „extremistisch“ erklärten, was eine Veränderung der Verhältnisse auch nur zur Debatte stellte. Es sind unsere Verhältnisse, mit denen wir täglich konfrontiert werden. Zwei imperialistische Kriege und zwölf Jahre Faschismus konnten nicht verhindert werden. Und ein neuer Faschismus zeigt schon wieder seine Fratze.

Zum Schluß noch eine Aussage Gudrun Ensslins Mutter: „Ich habe meine Tochter einmal in diesen drei Jahren gesehen und besucht, und das war kein Besuch, der wurde abgebrochen, ganz klar, weil die vier Leute (!), die dabei zuhörten, Abhörgeräte hatten - das war kein Besuch.“

Ich kann verstehen und auch mitfühlen, daß die Gefangenen der Roten Armee Fraktion die Zusammenlegung aller Gefangenen der RAF und Widerstand für notwendig halten.

Schon Kurt Tucholsky schrieb als gelernter Jurist: „Sage mir, wie ein Land mit seinen schlimmsten politischen Gegnern umgeht, und ich will dir sagen, was es für einen Kulturstandard hat“. - Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Karl Kirchner, Würzburg